68/Köpfe/Essay: Kopfball

Findige Köpfe heben sich aus der Masse, indem sie Farbe in den Einheitsbrei der Gesellschaft bringen, Ideen verwirklichen, die andere nicht einmal im Traum in Betracht zogen, und Sinnvolles mit Nützlichem verbinden. Sie beachten das Einfache kaum und setzen sogleich zum Kopfball an. Man könnte auch sagen, sie bringen die Menschheit weiter, und jene, die ihre grundsätzlich soziale Ader mit einem starken Willen verbinden, lenken unsere Geschicke. So weit die (positive) Theorie.
 

Den Kopf als Pars pro Toto für die ganze Person zu sehen, hat eine lange Geschichte. Ob sie die Erzeugung von Kopfskulpturen, Büsten und Porträts in der Kunst anstieß oder zumindest anfachte, sei dahingestellt. In der heutigen sogenannten modernen Welt verloren künstlerische Artefakte ihren (einst hohen) Stellenwert und müssen sich vielfach einer Mode unterordnen, und in diesem Sinne küren diverse Zeitschriften quasi als traditionelle Modeerscheinung einen Kopf des Jahres. Bei manchen handelt es sich um international bekannte Nachrichtenmagazine, die, seit der Vorwurf der Fake News im Raum steht, auf eine überraschende Art in Verruf gerieten.

Der aktuelle Kopf des Jahres ist nämlich der neue amerikanische Präsident, was sage ich: Er ist der Kopf jener vier Jahre, die mit dem heurigen angebrochen sind. Und vier bleiben es auch nur dann, wenn sich nicht genügend in ihrer eigenen Sicht kluge Köpfe finden, die für eine zweite Auflage einer solchen Politik sorgen.

Schon die ersten Wochen machten den Präsidenten zum Kopfjäger, das heißt, gemäß seiner propagierten Intention zum Jäger jener Köpfe, die es, wie sie grausam und vielfach bewiesen haben, bevorzugen, uns alle zu köpfen. Vom Ansatz her ein Ansinnen, das ein Aufatmen mit sich bringen müsste. Dass er freilich mit der Art und Weise, in welcher er sein Vorhaben per Dekret umzusetzen gedenkt, Millionen Unschuldige trifft und beleidigt, während die wirklichen Köpfer zweifellos andere Wege finden, in sein und unser Land zu gelangen, steht auf einem anderen Blatt und scheint ihn nicht zu kümmern: Wie er sich mit den Gerichten und selbst den Höchstrichtern anlegt, kann längst nicht mehr als eine inneramerikanische Marotte abgetan werden. Fakt ist: Es geht gegen viele Muslime und gegen Mexikaner. (Welche Erinnerungen einem da in einem Land mit einer Geschichte, wie Österreich sie hat, hochkommen, mag ich gar nicht aussprechen.)

Zur Inauguration erschien der zu diesem Zeitpunkt erst designierte Präsident mit seiner Frau, einem ehemaligen Mannequin, die selbstverständlich perfekt gestylt auftrat. Sie wurde in Slowenien geboren und wuchs dort auf, soll als Fremdsprachen unter anderem Französisch, Italienisch und sogar Deutsch beherrschen. Und natürlich Englisch – das für sie ja nichts anderes ist als eine Fremdsprache, wovon sich alle, der mal bei CNN oder BBC reinschauen, leicht selbst überzeugen können. Ich halte ihr inzwischen die Daumen, dass ihr Mann sie bei einem seiner vielen Ausgrenzungsdekrete nicht über Nacht des Landes verweist. Dabei hat der neue Präsident doch eine ausgesprochene Vorliebe für Migrantinnen. Seine erste Frau, ebenfalls ein Model, stammte aus der Tschechoslowakei.

Zugegeben, die Mauer soll nicht in Mitteleuropa oder an der Atlantikküste gebaut werden, sondern an der Südgrenze zu Mexiko. Mir fällt dazu automatisch die Große Chinesische Mauer ein. (Wie wirkungsvoll diese gegen die Mongolen war, erfährt man im Geschichtsunterricht.) Gegen China hat der Präsident ebenfalls einen gewissen Widerwillen an den Tag gelegt, getrieben von den wirtschaftlichen Gegebenheiten und Verflechtungen, und wer weiß, vielleicht schwirrt ihm auch der Gedanke an eine neue chinesische Mauer im Kopf herum. Bezahlen werden eine solche indes auch die Chinesen nicht, denn sie haben ja schon eine.

Was eine Kopfgeburt ist und was nicht, entscheidet der Präsident des mächtigsten Landes dieser Erde selbst. Auf den ersten Blick sieht dieser Satz harmlos aus, doch er bezieht sich auch auf Bereiche der Wissenschaft und des sozialen Lebens. Schulen, die korrekterweise Evolutionsbiologie unterrichten, riskieren staatliche Unterstützungen zu verlieren. (Bisher war das nur der Wunsch religiöser Fanatiker gewesen.) Klimawandel und alle damit verbundenen Implikationen werden auch mit Hilfe entsprechend geeichter Minister geleugnet. Vermutlich ist das erst der Anfang, und dass in den USA heute Wissenschaftler (denen viele eine gewisse Eigenbrötlerei nachsagen) geeint auf die Straße gehen und gegen solche Aussagen und deren rechtliche Konsequenzen protestieren, stimmt besorgt. Vielleicht wäre es sinnvoll, analog zum Verbot der Auschwitzlüge auch Bestimmungen gegen die Leugnung von Evolution, Klimaveränderung, Umweltverschmutzung und so weiter einzurichten. Freilich hätte das nur Sinn, wenn sie auf globaler Ebene von allen Staaten akzeptiert und ins nationale Recht übernommen würden, womit sich dieser Gedanke leider als echte Kopfgeburt erweist.

Im reflexartigen Erzürnen über die Ohnmacht so vieler gegenüber einem Einzelnen fällt mir der Herzkönigin Schrei »Kopf ab!« aus Alice im Wunderland ein. Die Geschichte eines Mädchens, das den Kopf hoch trägt und das nötige Selbstbewusstsein besitzt, die allerdings (von einem geistlichen Mathematiker) geschrieben wurde, um der reellen Alice mit einem gehörigen Augenzwinkern vermeintliche Flausen auszutreiben. Irgendwie erinnert das an die rhetorische Keule der Fake News. Purer Zufall?

Möglicherweise sollten wir positiv denken und den amerikanischen Präsidenten nicht an seinen Worten, sondern den Taten beurteilen (hatten wir das nicht schon mal?). Unterstellen wir ihm nicht, alles auf den Kopf stellen zu wollen! Aber können wir das? Er spricht von Selbstbesinnung, von Eigenbezug, von Abschottung. Die USA sollen sich viel mehr auf sich selbst besinnen, das heißt auch: mit sich selbst begnügen. Ist das in politischer Hinsicht klug? Die Köpfenden haben den Menschen in aller Welt den (so sehr ich diesen Begriff auch hasse) totalen Krieg erklärt, darunter auch notabene der überwältigenden Mehrheit der Muslime. In dieser Situation das westliche Verteidigungsbündnis aufzukündigen, wie mehrmals androht und dann wieder relativiert wurde (auch ein Fall von Fake News?), klingt gelinde gesagt ungeschickt. Dabei geht es meines Erachtens gar nicht so sehr darum, ob Europa ausreichend in seine eigene Verteidigung investiert oder nicht, es geht darum zusammenzustehen und dieses globale Problem gemeinsam und vereint anzupacken, denn anders wird es sich nicht lösen lassen. Anders ausgedrückt: Wer sich einbildet, im Alleingang mit einem Phänomen wie dem Islamischen Staat fertigzuwerden, wird sehr unsanft auf den Kopf fallen.

Freilich ist es leicht, vom Alten Kontinent aus über den Großen Teich zu schimpfen, so, als liefe bei uns alles pipifein. Man braucht indes seinen Kopf gar nicht besonders anstrengen, um zu sehen, dass auch hier einiges im Argen liegt. Nach dem Verrat (sic!) Großbritanniens am Gemeinsamen Europa wittern Ultrarechte ihre Chance und veranstalten einen Trommelwirbel, der einen ganz schwurbelig macht. Neologismen wie Frexit, Öxit und Nexit tauchten in den Medien auf, und es würde mich nicht wundern, hätte ich ein paar weitere nach diesem Muster glatt übersehen. Warum fühlen sich alle plötzlich so stark, dass sie meinen, mit einem Köpfler ins eiskalte Wasser und ganz allein die Geschicke des Planeten lenken zu können, ohne dass ihnen irgendwer dazwischenreden dürfe?

Vielmehr sieht es so aus: Gewinnt der Kopf der Nationalfront die französischen Präsidentschaftswahlen, dann zerbricht Europa, so wie der amerikanische Präsident es in aller Öffentlichkeit gewollt hat, dann scheren nämlich die wichtigsten Staaten aus (obwohl natürlich alle wichtig sind), und der klägliche Rest zerbröselt von allein, getrieben von selbstgefälligen Parteien, denen Geschichte und ein Zusammenstehen der Völker scheißegal sind. Und dann gibt es innerhalb weniger Jahrzehnte wieder Krieg in Europa. Nur ein Kindskopf kann diese Zusammenhänge ignorieren.

Was tut derweil Europa, um der dschihadistischen Gefahr zu begegnen? Österreich denkt an ein Kopftuchverbot. Das ist nicht ganz wörtlich zu verstehen (obwohl die Presse fleißig dieses Wort strapaziert – aber das sind vielleicht auch nur Fake News), denn offiziell geht es »nur« um Burka und Niqab. Immerhin, und die Verweise auf eine Unterdrückung von Frauen sind nicht von der Hand zu weisen und daher durchaus ernst zu nehmen. Aber sind Vollverschleierung und Kopftuch tatsächlich Symbole des gewalttätigen Islamismus? Mir fallen zum Thema Dschihadismus eher die typischen Rauschebärte der Männer ein. Erstens wird diese Gewalt fast hundertprozentig von Männern ausgeführt (weil den Frauen in der engen Welt des IS bloß die Rolle von Kinderzüchterinnen und Fickstuten zugestanden wird), zweitens tragen fast alle Dschihadisten Vollbärte in einer eigenen und äußerlich leicht kenntlichen Manier. Warum kommt niemand auf die Idee, diese Barttracht zu verbieten? Zugegeben, ob sie uns bärtig oder bartlos ermorden, spielt im Grunde keine Rolle, doch die öffentliche Attacke gegen Niqab und Kopftuch scheint mir eine Art Stellvertreterkrieg zu sein, der nur Öl (das wir den Islamisten zuvor teuer abkauften) ins Feuer gießt, aber, so wie es aussieht, nicht das Geringste zu einer Besserung der Situation beiträgt. Gibt es unter all den Politikern, hierzulande, in der Europäischen Union und in den USA, tatsächlich keinen hellen Kopf, der das erkennt? Die Politik läuft planlos um sich schlagend herum und mit ihnen die Boulevardpresse und viele Bürgerinnen und Bürger, die entweder längst den Kopf in den Sand gesteckt oder den Kopfhörer so laut gedreht haben, dass sie tatsächlich meinen, es ginge ohnehin nur um eine lästige Kopfbedeckung.

Ein Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen, wie er anscheinend immer häufiger praktiziert oder zumindest vorgehabt wird, ist keine Lösung. Wenn wir solches zulassen, wandeln sich Vorurteile zu Gesetzen, und das endet, wie wir aus unserer Geschichte wissen, am Kopfbahnhof. Also gilt es, einen Kopfball abzufangen, ihn mit Köpfchen in die richtige Bahn zu bugsieren und ein Tor zu schießen, das sich am Ende nicht als Eigentor erweist. Herauszufinden, wie das am besten geht, erfordert viel Zeit und Hirnschmalz. Vor allem aber: die Bereitschaft, es gemeinsam zu tun und sich nicht kopflos einem trügerischen Fatalismus zu ergeben. Obwohl es dermaßen logisch klingt, muss ich es (besonders in Richtung der sich unangreifbar und mächtig Fühlenden) aussprechen: Wir haben unseren Kopf nicht, um mit ihm durch die Wand zu wollen – wir haben ihn zum Denken!