58/Niemand/Achim Kuch: Im Zug

Achim Kuch

Im Zug

Ich wurde vergewaltigt, sagte das kleine Mädchen, in Bosnien, in meiner Heimat, als ich 24 war. Die ganze Verwandtschaft hatte sie mitgeholt, damals, aus Bosnien. Nach den Erschießungen. Irgendwie hatte sie etwas tun müssen. Draußen, vor dem großen Panoramafenster, zog fremde Landschaft vorbei. Wo sind wir, wollte das Kleine, das neben ihr saß, wissen. Wir sind bald da, antwortete, kaum hörbar, die Mutter. Und tätschelte mit ihrem Blick, jenem Blick, der dem aufmerksamen Beobachter vertraut ist, wenn er in Städten beim Joggen an belebten Spielplätzen vorüber kommt, ihren Bauch. Ganz gedankenversunken. Eine kleine Familie, so, wie jetzt, das hab ich mir immer gewünscht. Mutter, ja, murmelte die andere halbwüchsige Tochter vor sich hin. Sie war genervt davon, dass immer gerade dann, wenn sie selbst sich zu entspannen begann, eine andere Person in ihrer eigenen Vergangenheit herumwühlen musste. Die Tür öffnete sich. Die ältere Dame, die sich einige Minuten zuvor kurz in Richtung Toilette entfernt hatte, kam in Begleitung des Schaffners zurück. Reflexartig nahm die junge Frau die Füße vom Tisch. Der Schaffner sprach sie an. Sie griff in die linke Manteltasche, kramte ihr Portemonnaie heraus. Ja, stimmt, ich möchte nachlösen. Sagte sie. Einmal, bitte, mit Bahncard 25. In die nächste Großstadt. Ja, nur eine Person. Oder sehen Sie hier vielleicht noch jemand anderen?


Achim Kuch
Geb. 1969. Philosoph. Lyriker. Dichter. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. Aufsätze und Beiträge in Fachzeitschriften und Sammelbänden.