72/Vulkan/Die Reise in den Himmel von Franztobel

Schwarzblau ist der Himmel und flockt aus. Ernste Wolken stehen am Horizont, Donnergrollen, das in der Ferne schon frohlockt. Doch du beachtest davon nichts. Du läufst, wie du immer schon gelaufen bist, läufst, weil dir die Zeit fehlt, läufst in die Station, siehst, wie kirschrot „1 Minute“ auf der digitalen Anzeige brennt, hetzt die Waschbetontreppen rauf, rufst „Komm schon“ zur Digitalanzeige, wie du es sonst zu deinem Auto oder Computer, wenn sie nicht anspringen, sagst. Du siehst den Gondelführer, deutest ihm, der eben das zitronengelbe Gitter schließen will, lächelst ihn an, läufst, wie du immer schon gelaufen bist, schlüpfst durch ein Drehkreuz, springst in die Seilbahn, siehst das schwarze Rippblech unter dir und keuchst, keuchst, keuchst, während der Gondoliere gemächlich das Gitter schließt, die Tür verriegelt und in einen Telefonhörer flüstert, dass man jetzt bereit sei. „Voll“, sagt er, als vom anderen Ende der Leitung die Frage kommt, ob Leute in der Gondel sind. „Voll!“ Dann lacht er und murmelt „aber die meisten verstehen mi net.“ Was für eine Sprache? Wie eine Dachluke kommen dir diese Wörter vor, ein Spalt in ihn hinein, ins Innere des Gondelführers.

Du blickst dich um und siehst Urlauber, die mit ihrer Skiausrüstung aussehen wie wandelnde Heizdecken. Die meisten haben hellrosa Lippen und Sonnencreme im Gesicht, verbrannte Nasen. Da macht es einen Ruck, setzt sich die Gondel in Bewegung, sacht zuerst, so als wollte sie sich raustasten wie ein Schildkrötenkopf nach einem Angriff. Vorbei an hölzernen, mit Schrammen gesprenkelten Leitplanken, schneller dann, du merkst, wie sich die Gondel hebt, es aufwärts geht, siehst die rasch kleiner werdende Talstation, und spürst, wie dir der Boden unter den Füßen weggezogen ist, du in der Luft liegst wie eine in die Höh geworfene Schildkröte, nur ist dein Panzer ein Metallkasten mit Fenstern, eine Seilbahngondel, brauchst du den Kopf nicht einziehen, kannst hinaussehen, sehen wie die Lärchen, die einzigen, bis zur Baumgrenze wachsenden Bäume, kleiner werden, wie die Talstation, die Autos am Parkplatz bald Spielzeuggröße haben, und schon fallen dir all die Seilbahnunglücke der letzten Zeit ein, der Düsenjäger, der in Südtirol ein Seil durchschnitt, der Lasthubschrauber, dem ein Betonkübel entglitt – genau über einer Gondel, der Stromausfall, der Brand, die lose Halterung. Katastrophen und Tragödien, die dich nie tangierten, weil du ja nie in einer Seilbahn warst, nie hoch hinaus wolltest, dich Gipfel noch nie interessierten.

Jetzt aber hängst du drinnen, hängst an zwei Seilen, bist gefangen und frägst dich, wie du so naiv, so leichtgläubig, so dumm sein konntest, in eine Gondel einzusteigen und zu vertrauen. Einer vielleicht verlotterten Seilbahngesellschaft, besoffenen Technikern, gewinngeilen Aktionären? Langsam dämmert dir, dass du verloren bist, auch wenn du dir diesen Gedanken gleich verbietest. Du siehst zum Gondelwart, in dessen Gesicht sich keine Regung zeigt, selbst sein brotfarbener Bart ist wie versteinert. Du hörst die anderen Passagiere über ihre Witze lachen, die du nicht verstehst. Niemand in dieser Ausgelassenheit scheint noch gefasst, den Ernst zu spüren, niemand scheint wahrhaben zu wollen, dass ihr nur an einem Seil hängt, von dem keiner weiß, wie es beschaffen ist. Was, wenn es Materialfehler oder Seilfraß gibt? Kleine Kabelfressertiere? Vielleicht war die letzte Wartung schlampig, hüpft das Seil aus einer Rolle, gibt es Sabotage? Diebe? Ein Attentat?

Der Gondoliere steht da wie eine Stewardesse. Seine langen, gebogenen Zähne blitzen aus dem Bartgeflecht. Hundezähne, und dir fallen die kurzen Zahnstummel deiner dicken Wirtin drunten im Tal ein. Ob Gondelfahren die Zähne wachsen lässt? Um im Falle eines Unglückes nach dem Seil zu schnappen, sich daran festzubeißen? Passen sich nicht alle Arten ihrer Umwelt an, gibt es Schmetterlinge mit Tigeraugen auf den Flügeln und Zebras mit Baumschatten-Bemalung. Bald wird es Tiere geben, die aussehen wie Radarfallen, rostige Abfälle oder Handgrantaten. Warum also nicht Gondelführerzähne?

Der Gondoliere verrät nicht die geringste Regung. Als ein Windstoß auf die Gondel drückt, es leicht zu schaukeln anfängt, lächelt er. Ob man hier seekrank wird? Oder sind das erste Anzeichen eines Höhenrausches? Angeblich macht einen die Höhe nicht nur schwindelig, sondern auch ein klein wenig verrückt. Du fühlst dein Blut, wie es pulsiert, wie es klopft in deinem Fleisch, heraus will, deinen Körper Schaukeln macht. Mit 100 Sachen rast dein Puls, ein Schweißfilm liegt auf deiner Haut und in den Augen hängt die Angst, die gnadenlose, kaltherzige Angst. Wie eine englische Königin sitzt sie in dir, hat ihr Krönchen auf, trinkt Tee mit einem Tropfen Milch und verkündet ohne ihre strenge Mine zu verziehen: Protokoll ist Protokoll ist Protokoll. Das verlangt die Tradition.

In der Triefe siehst du die schroffen, aus dem Schnee ragenden Felsen, dunkelgraue Gesellen voller Risse, die Grimassen schneiden und dir zurufen: „Komm nur! Fall herunter! Trau dich! Komm!“ Schwarzes Wasser tropft aus ihren Poren, schwarz wie Jesusblut an der Dornenkrone. Schwarz wie ihre tiefen Furchen, die ihnen das raue Klima eingegraben hat. Du überlegst, wie diese Steinspitzen das dünne Blech der Gondel, wenn sie runter fallen sollte, schlitzen würden, aufschlitzen wie Kinder eine Getränkedose oder Eselsschwänze eine Jungfrau.

Dohlen kreisen an den Felsen. Kreischen. Werben um den Fortbestand der Schöpfung. Die müssen sich in keine Seilbahn stellen. Dir fällt die Ausgestopfte ein, die auf einem Ast im Stüberl deiner Wirtin sitzt, gleich neben dem Auerhahn, dem Rebhuhn und dem Elchgeweih, den 24 Krickerln, die mit Senkkopfschrauben an Holzbrettchen geschraubt sind, so, dass die verzinkten Kreuzköpfe wie Augen in den Hirschschädeln stehen. Was ist das? Tierschädel in die Stube hängen? Ein heidnisches Ritual? Was Schamanistisches? Besänftigung der Hirschseele? Und die anderen Scheußlichkeiten? Ausgestopfte Bambis, Hexenpüppchen aus grobem Leinen, trollgesichtige Steine, eine Kerze in Penisform, auf der steht: „Danke für 40 Jahre Gastfreundschaft“, ein grünes Blechschild mit „Bier unser“, dem Vater Unser der Biertrinker, Stickbilder und im Eck thronend über allem ein Fernseher, der die Menschen in der Welt sein lässt, die bestenfalls in sehr verzerrter Form als Heimatfilm und Musikantenstadl bis zu ihnen reicht.

Und jetzt, wo der Sturm anschwillt wie ein Penis vor der Fut, die Gondel wie ein Betrunkener schaukelt, selbst den abgebrühten Passagieren in ihren schicken Schianzügen nicht mehr zum Lachen ist, manche sogar beten, jetzt wärst du gerne wieder in dem Stüberl, diesem Urstand des Urigen, möchtest einmal noch all die wunderbaren Scheußlichkeiten sehen, die alte, dicke Wirtin mit den kurzen Zahnstummeln, der die Schweinsbraten und Knödel aus den Waden gewachsen scheinen, deren ganzer Körper wabbelig wie eine aufgeweichte Semmel wirkt. Wie schön wäre sie jetzt, welch Wohlklang wäre ihre Jammerlitanei über das Ausbleiben der Gäste, dass auch die wenigen, die sich noch zu ihr verirren, nichts mehr essen, nur auf die Gesundheit schauen, Fitnessteller wollen, Salate und Gemüseleibchen, während früher Betriebsausflüge mittags dreimal den Saal füllten, sechs, acht Bedienerinnen gar nicht nachgekommen sind, all die Braten, Schnitzel und Speckknödel zu servieren. Heute kommt kaum noch wer, zieht nicht einmal ihr Topfenstrudel Gäste an. Du aber siehst kein Stüberl, keine Wirtin, und du hörst auch keine Litanei.

Du stehst in der Gondel, die der röhrende Wind peitscht, ihr Schlag auf Schlag verpasst, sie umher reißt, kippt nach links, nach rechts, so dass du zitterst, dich fast ankotzt. Sollte das dein Ende sein, keine gewöhnliche Gondelfahrt, und doch ein bisschen venezianisch, eine Reise in den letzten großen Seufzer, eine Reise in die letzte lange Nacht. Deine Gondel ist zwar nicht schwarz und auch nicht asymmetrisch, auch singt dein Gondoliere kein Volare, hast du keine Samtpölster auf schwarzlackierten Stühlen unter dir, und bist doch im Canale Grande. Unter keine Brücken fährst du durch, musst keine Vaporettos fürchten, keine Fischerboote, und doch ist deine Gondel auch ein Sterbezimmer, ein Fährschiff in die Welt der Schatten – im großen Kanal aller Vergänglichkeit.

Du blickst nach unten, kannst die Talstation nicht mehr erkennen, und auch oben, von der Bergstation ist nichts zu sehen. Der Gondelführer, den das Schaukeln nicht zu irritieren scheint, hat kaum Knöpfe zur Verfügung: „Langsamer“, „Schneller“, „Türentriegeln“ kannst du lesen. Er hat „Langsamer“ gedrückt, doch nützt es nichts. „Ist das nicht gefährlich“, fragst du. Doch er lächelt, sagt: „Ach wo. Allerdings ist so a Gondel wie a Frau, durchschauen kann man’s nie.“ So schlimm, denkst du. Sitzt in einer Frau, die nicht mehr mit sich sprechen lässt, ihren prämenstruellen Anfall hat, der alles wurst ist und die auszucken oder dich gebären muss. Du bist verloren. Alles schaukelt, Konvulsionen. Etwas schreit. Ist es in dir? Dein Mund? Du erschrickst, erstickst in dieser Stimme.

Die anderen Passagiere schweigen, nur ein kleines Grüppchen lacht, sagt, dass man hier Partys geben müsste, mit Salonmusik, Champagner, Kaviar, und wenn jemandem übel wird, kann er praktischerweise gleich in die Landschaft kotzen. Das Leben eine Gondelfahrt? Eine einzige Party? Aber war nicht der Start wie eine Geburt, und hängt nicht auch das Leben oft an Schicksalsfäden?

Nun seid ihr in dichten Nebel eingetaucht. Ist nichts mehr zu erkennen, nur, dass die Gondel nicht mehr vorwärts fährt, sondern steht, wenn sie nicht bereits runter fällt, zumindest kommt es dir so vor. Warum nur, bist du eingestiegen. Warum? Wie konntest du vertrauen? Einer Technik, einem Fortschritt, dem Gerede von der neuen Zeit? Nun bereust du. Du bereust, vieles nicht getan zu haben, immer eine Ausrede gehabt, deine Talente vergeudet zu haben, bereust jede verpasste Gelegenheit, alles, was du stets verschoben hast, du schwitzt. Du schwitzt entsetzlich, schwitzt die Unendlichkeit heraus. Alles, was du getan hast, alles, wofür du jemals eingestanden bist, ist auf einmal ganz weit weg. Alles, was du bist und warst ist unwichtig, lächerlich, absurd. Bald bist du nur noch ein Name in der Zeitung. Gebrochen werden deine Knochen sein, eine Unzahl kleiner Splitter, und dein Fleisch wird eingedrückt, zusammengefaltet wie eine ausgeblasene Luftmatratze sein. Wie ein überfahrenes Tier wirst du aussehen, ein verzerrtes Abbild deiner selbst. Was bleiben wird, ist eine Todesanzeige in der Zeitung und sonst nichts.

Auch die anderen Passagiere sind nun still, blicken den Gondoliere böse an, wissen, dass er ihr Todesfahrer ist, ihr Fährmann Richtung Thanatos. Du spürst, wie ihr Hass sich steigert, wie sie murmeln, fluchen, ihre Skistöcke umfassen. Da macht sich der erste Luft, schreit in einer unbekannten Sprache, brüllt den Gondelführer an, der sich nicht regt, mit seinen daumenlangen Zähnen, seinen trüben Augen gleichgültig ins Leere starrt, sich nicht einmal entschuldigt für die ruckartigen Bewegungen, die nun von einem lauten Hui und Ahh begleitet werden. Wie ein Butler steht er da. Seelenlos.

Die Passagiere haben ihre Skibrillen an, sehen wie Banditen aus, wie Fleisch und Blut gewordene Verzweiflung. Räuber, die ihr eigenes Leben stehlen, sich nicht abfinden wollen mit dieser Reise ins Jenseits, und du merkst, dass sie nicht aufgeben, die Gondel erobern, umkehren, um ihr Leben streiten wollen. Aber wie denn? Selbst wenn sie den Gondoliere überrumpeln, wird die Gondel unerbittlich rauf gezogen, raus aus dieser Welt. Doch soweit denkt man nicht. Da hat sich schon einer auf den Gondoliere geschmissen, ihn in den Würgegriff genommen, ein Stück Ohr ihm abgebissen, ausgespuckt, ein anderer schreit, dass er nicht sterben will, nicht kann, noch leben muss, drischt dabei auf den Bediensteten der Seilbahngesellschaft, dessen lange Zähne bald eingedrückt nach allen Seiten stehen wie ein Mikadospiel, während ein dritter mit Sonnencreme um sich spritzt. Die Gondel schaukelt wild. Einer hat ein Fenster aufgekriegt und kotzt hinaus. Ein anderer trinkt Zirbenschnaps und jodelt, während sich ein Pärchen, das sich zu Beginn der Fahrt noch fremd gewesen ist, wild umarmt, küsst und scheinbar viel ineinander zu tut gefunden hat.

Der Gondelführer versucht sich zu befreien, will den Telefonhörer erreichen, aber Passagiere beißen sich in seinen Füßen fest, schreien in Todesangst, schlagen auf seinen Gondelführerschädel, dass Blut wie aus einer zergatschten Kirsche spritzt, brüllen, bis man etwas knacksen hört. Draußen blitzt und donnert es, herinnen aber bricht ein Schädel, wird dem sich am Boden windenden Stellvertreter der Seilbahngesellschaft, dem Papst der Gondel, in die Nieren und den Bauch getreten, immer wieder, wieder und wieder, bis er nicht mehr wimmert, sein schönes dunkelblaues Käppi mit der gelben Schrift, in einer großen roten Lache liegt. Jetzt packt man ihn, hebt ihn mit Hauruck zum Fenster und wirft ihn in den Nebel, sein Schuh verfängt sich, krallt sich fest, tausend Klammerarme wachsen aus ihm raus, auch seine Zähne beißen sich noch einmal fest wie ein irrwitzig wütender Hund, aber nein, man kann ihn raus bugsieren. Er fällt und fällt und fällt. Da reißt der Nebel auf, siehst du ihn mitsamt blauem Anorak, Jeans und Bergschuhen in die Tiefe stürzen. Ein Schrei hängt an ihm dran. Ein Schrei wie der Schweif eines Kometen.

Kaum ist er verzogen, sticht die Sonne raus, blickst du zur Bergstation, siehst einen strahlend blauen Himmel unter dem sich weiße, angezuckerte Gipfel tummeln. Eine Pracht von Schneelandschaft, göttliches Panorama. Und du siehst die anderen Passagiere, die nun wieder Witze machen, fröhlich sind. Und auch der Gondoliere, kommt es dir vor, steht wie eh und je an seinem Platz mit den drei Knöpfen, sieht dich an und sagt mit einer Stimme voller Frieden: „Was man in den Bergen lernt, ist zu vertrauen.“

Du steigst aus, siehst schwarze, im Wind schaukelnde Gondeln, Skifahrer, die lustig zu ihren Pisten stapfen, lachen, eine Schneeballschlacht machen. Das Schild zum Restaurant mit abgebildeten Gerichten: Schweinsbraten, Gulasch, Schnitzel und eine abgeschnittene, mit Mohn bestreuten Brust, ob die von der Gondel ist? Germknödel steht daneben. Ob du dem vertraust?

Etwas später kommt im Schritttempo die nächste Gondel, Männer der Seilbahngesellschaft mit kurzen Hosen stehen ihr am Dach, hängen an der Halterung, kontrollieren so das Seil. „O, my god!“, kreischt eine Touristin, „o, my god!“ und auch dir wird schon vom Hinsehen schlecht. Ob das nicht gefährlich ist? „Aber wo, wir sind’s gewohnt.“