62/Angst, Furcht und Schrecken/Prosa: Althea Müller. Elternhaus

Althea Müller
Elternhaus

Das Geräusch des Brunnens hinterm Haus, vertraut, verhasst dringt es ins Zimmer. Ein steter Tropfen, der den Stein in seinem Hirn höhlt. Rauschen, Gluckern, kleine Schreie, verzerrt vor Schmerz, nicht auszuhalten. Er muss das Fenster schließen, das zum Garten hinausführt, wo der verdammte Brunnen steht und ihm zur Last legt, was nicht seins ist. Schweiß steht ihm auf der Stirn, schwül ist die Nacht einmal mehr, das Klima hier wird ihn noch krank machen. Seit er ein Kind ist, will er nur hier weg, aber da ist das Haus, da ist der Brunnen, da sind die kleinen Schreie. Von unten hört er Schritte über Böden kriechen, langsam und ohne jene Hast, die nicht mehr möglich ist, so alt ist er nun schon, der Vater, der im Erdgeschoss haust. Sein Vater hier, der macht ihn krank.

Es war einmal der Punkt da.

Nein. Bevor er weiterdenkt, sich weiterdenken will in diesen Strudel an bedauernden Wortfetzen in seinem viel zu klugen Schädel, da braucht er was zu trinken. Da braucht er was zu rauchen. Er setzt sich auf den Lehnsessel, der ihn krank macht, seit er ihn geerbt hat von der Großmama, und schenkt sich im Sitzen den Rest aus der Flasche Rotwein in das abgegriffene Glas, das er seit mehr als fünf Tagen schon in diesem Zimmer hat. Aber die Küche ist im Erdgeschoss, im Erdgeschoss ist auch sein Vater, und die verdammte Tür zum so verdammten Garten und dem Brunnen – auch die ist dort unten. Dann lieber hier oben bleiben, anstatt nach unten in die Küche gehen, Gläser tauschen. Dann lieber lang noch aus dem schmutzigen Glas trinken. Wenigstens der Wein ist ja nicht schmutzig. Der Rest aus der Flasche füllt das Glas bis zum Rand, vorsichtig setzt er die schmalen Lippen an und säuft wie ein Kalb ohne Manieren die ersten Schlucke, dann setzt er alles ab und greift nach seinen Zigaretten. Gott segne den Vorrat an Zigaretten, sicher verwahrt im Kasten neben seinem Bett, in dem er schon als junger Mann sich seinen Träumen hingab. Das Zimmer hier, es macht ihn krank. Der Rauch in der Luft tut gar nicht gut, vermischt sich unangenehm mit den Gerüchen von ihm selbst, mit den Gerüchen aus dem Kübel in der Ecke, mit seinem Schweiß und ihrem Duft. Der war mal süß, der Duft von ihr, jetzt ist er abgestanden, abgefuckt wie alles in dem kleinen Raum. Mit der Zeit vergeht das Schöne, er seufzt und zieht noch einmal an der Zigarette, hebt sich hoch, öffnet das Fenster. Die schwüle Luft von drinnen vermischt sich mit jener dunklen jetzt von draußen. Besser, besser. Aber der Brunnen ruft jetzt wieder. Unten fällt etwas um, er kann es deutlich hören, dumpf klingt es, wie ein Küchenstuhl vielleicht, der umgekippt ist einmal mehr durch diesen alten Narren, der da unten immer noch herumläuft, als wär‘ er dreißig Jahre alt. Was kümmert’s ihn. Er ist hier oben, wieder einmal, und noch nicht bereit, das Zimmer zu verlassen. Kann sein, dass die Erinnerung an sie und ihren Duft ihm bald verblassen wird, kann aber sein, dass sie ihm dieses Mal doch länger bleibt, die Frau. Wenigstens im Kopf und in der Nase. Besonders war sie, besser als die andren Huren, die er hier schon hatte. Auch keine Heilige, und doch – nur kurz – ein Stück – vielleicht eine Sekunde lang. Hätte er sich vorstellen können, mit ihr von hier wegzugehen. Irgendwo, vielleicht ja gar nicht mal so weit von hier wie er es immer dachte, da musste es doch andre Möglichkeiten geben. Weit weg von dem, was abgegriffen, kahlgeschoren, kaltgestellt ist, all das Zeug, das Leben, das Getier in diesem Haus. In diesem Garten. Nur kurz. Er hätte es sich vorstellen können. Rauschen, Gluckern, kleine Schreie. Er muss das Fenster wieder schließen, er muss den Wein austrinken, er braucht Ruhe. Bevor er sich ins Bett legt, muss er aber dringend nachschauen, nur zur Sicherheit, für später oder erst für morgen – denn morgen, wer weiß schon, ob er da dann soweit sein wird, rauszugehen? Er muss sich jetzt gleich überzeugen. Unterm Bett steht die Kiste, sein Vorratslager für den Wein, er zieht sie hervor. Vier Flaschen sind noch drin. Er seufzt erleichtert, fast fühlt er Glück in dem Moment. Er schiebt die Kiste zurück unters Bett und legt sich dann auf die Matratze, streckt sich aus. Blick durchs Dunkel an die dunkle Decke. Das Atmen fällt ihm schwerer als vor kurzem, aber das ist die Witterung, die belastet ihn, das ist das Rauchen, er sollte damit aufhören. Das ist ihr Duft, der jetzt immer säuerlicher wird, er kann nichts dagegen tun, kann nur versuchen, sich an den Ursprungsduft zu erinnern, der süß war und nur kurz, ein Stück, vielleicht eine Sekunde lang ihn glauben machte, es könnte jemals anders sein.

Es war einmal der Punkt da. Wie gesagt.

Er gibt sich seinen Denkspiralen hin. Gedanken an hätte, könnte, wäre. Sinnlos, doch beruhigend inmitten seiner Wolke, seines Nebels. Die Nacht ist schön, er könnte rausgehen. Er ist noch jung, er hätte vorvorgestern packen und verschwinden können. Es wäre möglich, wegzulaufen, weil ihm niemand folgt. Und doch. Wie Blei liegt er auf der Matratze. Die ist gut fünfzig Jahre alt. Die hat schon wirklich viel gesehen. Bald wird es Mitternacht, dann wird es wieder rundgehen da unten. Sie werden mit ihr machen, was sie immer mit den Huren tun. Nur diesmal ist es anders, denn es tut ihm leid. Es tut ihm weh. Er könnte sie noch retten. Er wäre stärker als die Alten. Er hätte gute Chancen, und sie auch. Das Blei wird schwerer, immer schwerer. Sie hat noch nicht geschrien. Kann aber sein, dass sie es nicht mehr kann. Wer weiß, wie es die letzten Nächte für sie war. Sicher kein Zuckerlecken. Er leckt sich langsam seine Lippen, erinnert sich an sie. Ganz arglos folgte sie ihm auf den Hof, der schön und blumig wirkt nach außen hin. Er glaubt ja mittlerweile, dass sie wirklich auch verliebt war. Ein Stück verliebt in ihn. In ihn. Der lieber in den Kübel scheißt, als jetzt sein Zimmer zu verlassen. Unten beginnt es jetzt, sie nehmen sich, was er, der Trottel, ihnen einmal mehr gebracht hat. Er hätte mit ihr fortgehen sollen, nicht zu sich nach Haus. Möbel kratzen auf Holz, die Schritte sind jetzt dumpfer als vor einer Viertelstunde, sicher hat er sich seine Stiefel dafür angezogen. Die hallen besser in der Stube, wo er nun tut, was Gott verboten hat. Ach Gott. Er rollt sich auf die Seite, schaut aus dem Fenster, das jetzt offensteht, ein klaffendes Maul in ein Außen, das auch nicht besser ist als das, was drinnen ist. Er atmet flach, um sich nicht hören zu müssen und besser den kleinen Schreien aus dem Erdgeschoss zu lauschen. Sein Hirn spielt ihm den Film vor zu dem bisschen, das er hören kann. Sie ist wohl durchgestreckt wie ein Stück Draht jetzt, kaum fünfundvierzig Kilo, langes Haar, das vielleicht den versifften Boden in der Stube streift dabei. Und ihre Augen starren jetzt den Alten an. Oder den andren, der daneben steht, mit Wurstfingern die Flasche haltend. Er hätte sie nicht bringen dürfen. Er wäre besser dran gewesen zu laufen. Er könnte aufstehen, sie holen und verschwinden. Das Blei senkt sich in jeder Zelle seines Körpers zur Matratze. Hält ihn fest. Er starrt hinaus, hört jetzt von unten her ihr Wimmern, nur ganz leise. Ganz laut dagegen ist das Schluchzen seiner Mutter, zwei Zimmer weit entfernt von ihm, er kann sie deutlich hören, die Alte.

Und wieder steht er auf. An Schlaf ist nicht zu denken. Sein Zimmer wird er erst verlassen, wenn sie endlich fertig sind mit ihr. Vielleicht heute. Vielleicht morgen. Bis dahin hat er noch vier Flaschen Stoff, und eine davon holt er sich jetzt unterm Bett hervor und öffnet sie. Ein Glas noch, vor dem Schlafengehen, das tröstliche, das letzte, bis er genug hat, um sie unten nicht mehr zu hören. Und auch nicht das Geheuchel seiner Mutter von dort drüben. Lange, schön beringte Finger streichen seinen Rücken entlang, als er noch klein ist. Lange, schön gekämmte Haare streifen verwirrend sein Gesicht, als er gerade Schreiben lernt. Lange, schön geformte Sätze flüstern ihm ins Ohr, wie richtig er doch alles macht.

„Ihr seid doch alle Arschlöcher“, murmelt er halblaut. Trinkt aus, geht in die Ecke, macht in den Kübel, wischt sich ab. Kontrolliert das Schloss an seiner Zimmertür. Alles in Ordnung. Von unten hört er nur noch das Grunzen der Schweine, die er selber immer weiter füttert, das Wimmern von der Duftenden ist fort, das Heulen von der Alten nebenan verstummt. Nur der Brunnen mit den kleinen Schreien steht nicht still, gluckert, rauscht, verzerrt vor Schmerz, ruft durch das offene Fenster ihm zu, dass er nicht vergisst, in welchem Sumpf er aufgewachsen und geblieben ist. Es macht ihn krank, hier zu wohnen. Aber jetzt stört es ihn nicht mehr so arg wie vorhin noch. Der Stoff vereitelt seinem Hirn das Weiterdenken.Leichtigkeit breitet sich in den Zellen aus, noch immer bleischwer, aber seine. Der Nebel legt sich über ihn und deckt ihn zu, während er zurück jetzt in sein Bettchen kriecht, klein ist er wieder, unschuldig und klug. Dies ist sein Zimmer, hier ist er sicher.

Es war einmal der Punkt da, von hier wegzugehen. Er hat ihn verpasst. Doch damit kann er leben. Damit muss er leben. Hier ist schließlich sein Zuhause. Und unten ist grad die nächste krepiert.


Althea Müller Geb. 1980. Und zum Glück in Wien. Literarisch interessiert seit dem Kindergarten. Mehrere Kurz-Geschichten wurden mittlerweile in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht – und so manches Gedicht wurde live vorgetragen. Niemand kam dabei zu Schaden. Beruflich seit 1999 beinahe laufend tätig – vorwiegend im Event-, Promotion- und Text-Bereich. Liebt Menschen und andere Tiere. Und mag stoisch stolze Topf-Pflanzen, die für tot galten und rein aus Trotz zu neuem Leben erblühten. Letzte Veröffentlichung: „Kofferkind“ (Roman)