63/Alles Theater/Prosa: Egyd Gstättner: Mein Theater

Mein Theater
Oder: Meine Vorstellung von einer Vorstellung


Das Kellertheater ist klein, und groß ist auch das Honorar nicht gerade. Aber immerhin: Es gibt eines, und ich war schlau genug, mir die erste Rate vom Theaterleiter, einem begnadeten Wedekind-Darsteller auf und hinter und jenseits der Bühne, am Nachmittag vor der Premiere im Theatercafè auszahlen zu lassen mit der Androhung, mich anderenfalls während der Vorstellung auf die Bühne zu stellen und coram publico und vor allen Journalisten mein Honorar einzufordern. Sonst hätte ich es wohl nicht bekommen. Obwohl es zehn volle Jahre gedauert hat, bis mein erstes, anlässlich meines Zwanzigers geschriebenes Drama uraufgeführt worden ist, waren die Premiere und auch die folgenden fünf Aufführungen restlos ausverkauft: So viele Bekannte kann man gar nicht haben. Eines Tages möchte ich sagen können: Wenn man bekannt ist, braucht man keine Bekannten. Freilich hatte ich niemals Lust gehabt, Dialoge mit Turnübungen zu garnieren und auf der Bühne irgendwelche Leute irgendetwas reden zu lassen, damit am Ende eine Lebensweisheit herauskommt. Die Tageszeitungen konnten sich nicht zwischen einem brisanten Stück in hausbackener Inszenierung und der ambitionierten Inszenierung eines langweiligen Stücks entscheiden. Einhelliges Lob galt den diabolischen Dessous des Erzengels, eine noch nicht zwanzigjährige Laiendarstellerin vom Land. So ist der Boulevard. Wirklich verrissen hat mich nur die Kirchenzeitung. Hat sich der Autor ganz einfach über sein Publikum lustig gemacht, und wenn ja: Ist das mutig? Die Grenze zwischen Mutprobe und Jugendsünde ist fließend. Am Theater lässt es sich unmittelbar und einwandfrei feststellen, ob das Publikum an den richtigen Stellen lacht. Aber es lässt sich nur schwer und nicht einwandfrei feststellen, ob das Publikum an diesen richtigen Stellen auch aus dem richtigen Grund lacht, falls es überhaupt lacht. Es gibt in meinem Schöpfungsbericht eine Stelle, in der der Teufel und der Liebe Gott gemeinsam ein Tischgebet sprechen, und eine Kritikerin fand den Einfall gelungen, den Teufel beten zu lassen. Meine Frau hingegen fand den Einfall gelungen, Gott beten zu lassen. Ich selbst darf jetzt im Nachhinein durchaus behaupten, daß die Produktion meines Schöpfungsdramas kein besonderer Erfolg war. Während ich nur bei der Generalprobe für das Regionalfernsehinterview, bei der Premiere und bei der Abschlussaufführung anwesend war und mich also noch kein Übersättigungsgefühl plagte, hatten sich die Schauspieler während der sechswöchigen Probenzeit und der vierwöchigen Aufführungszeit offenbar den Geschmack verdorben. Bei der Abschlussaufführung haben die Schauspieler gespielt und gemacht, was sie wollten, sodaß diese Abschlussaufführung mit der Premiere und mit dem, was ich mir unter der Vorstellung vorgestellt hatte, nicht mehr viel zu tun hatte. Vor allem der norddeutsche Hauptdarsteller, der den Adam gab, ein sogenannter professioneller Schauspieler, hat ungeniert den Text verändert, ganze Passagen entweder weggelassen oder frei erfunden, für das ahnungslose Publikum unbemerkbar das Original parodiert und sich durch meine Anwesenheit bei dieser Abschlussaufführung in seinem Einfallsreichtum nicht im mindesten irritieren lassen. Im Gegenteil hatte ich den Eindruck, daß der Adam mich die ganze Vorstellung lang fixierte und nur für mich, das heißt: gegen mich spielte und sich mit diesem Spiel an mir für die Qualen der vorangegangenen zwölf Aufführungen rächte. Das hat man davon, wenn man Menschen anstatt Buchstaben für sich arbeiten lässt! Während dieser Abschlussaufführung waren nach dem zweiten Bild etliche Zuschauer gegangen, wie bei den meisten Aufführungen, die Premiere ausgenommen, vereinzelt Leute nach dem zweiten Bild das Kellertheater verlassen haben. So schlimm war es für sie gewesen. Sogar eine Reisegruppe aus Wolfsberg, die mit dem Bus zu meinem Theaterstück angereist war, soll das Theater nach dem zweiten Bild geschlossen wieder verlassen haben, in den Bus gestiegen und nach Wolfsberg zurückgefahren sein. Während des Abschlussessens bezahlte der angeheiterte Kellertheaterintendant die zweite Rate der Honorare aus. Das Abschlussessen mussten sich die Esser selbst bezahlen. Der angeheiterte Intendant hat aber allen Beteiligten in schwarzes Seidenpapier eingewickelte Mängelexemplare von Taschenbüchern zur Erinnerung geschenkt. Welch schöne Geste! Ich habe einen Band mit Theateressays von Arthur Miller bekommen. Die habe ich sofort wieder in das schwarze Seidenpapier eingewickelt und in die nächste Mülltonne geworfen, obwohl man keine Bücher wegwerfen sollte, ganz gleich warum. So unbescheiden war ich. Während also manche Leute nach dem zweiten Bild gegangen sind, obwohl sie vollen Eintritt bezahlt haben, ist unser beamteter Universitätsstadtphilosoph erst nach dem zweiten Bild gekommen und hat, wie mir die Kartenfrau später erzählt hat, am Kassatisch so lange mit ihr gefeilscht, bis er nur noch den halben Preis bezahlen musste. Ohne die ersten beiden Bilder gesehen zu haben, sagte mir der beamtete Universitätsphilosoph später, er an meiner Stelle hätte dieses Stück nicht aufführen lassen. Ja, sagte ich dem lässigen Zuspätkommer und pragmatisierten Philosophiebeamten, ja Anarchiebeamten mit Zusatzpension, aber dann wäre das Fernsehen erst zu meinem Siebziger und nicht schon vierzig Jahre früher, also jetzt gekommen, um mich wie zufällig und unabsichtlich bei einer natürlich gestellten Unterhaltung mit dem Regisseur zu filmen, auch wenn schließlich nur ein einziger Satz aus meinem Mund tatsächlich gesendet wurde, ein völlig idiotischer, wenn ich mich recht erinnere. Aber ein Fernsehsatz ist besser als kein Fernsehsatz. Wie viele Dichter müssen ihr Leben lang ohne Fernsehsatz auskommen! Wie viele werden nie um einen O-Ton gebeten! Nach dem Fernsehsatz hat mich jemand aus Judenburg angerufen und gesagt: „Du hast es geschafft! Du hast es ja jetzt geschafft!“ Er habe es nicht geschafft. Und dann hat er mir sein ganzes Leben erzählt: Ein schreckliches Leben, wenn auch ohne Ereignis. Einer hat mir einen Brief geschrieben und mir ein gutes, altes Hausmittel gegen rezidivierendes Erbrechen empfohlen. Dann hat einer angerufen und gesagt, er müsse ein Referat über mich halten: Wann ich geboren sei und welche Hobbys ich habe? Dann habe ich mir einen automatischen Anrufbeantworter gekauft. Ohne Aufführung wären nicht nur die schmucken Programmhefte, sondern auch die ein Meter zehn mal siebzig Zentimeter großen Plakate mit meinem Namen nicht gedruckt und aufgestellt und aufgehängt und aufgeklebt worden. „Weißt du“, habe ich dem pragmatisierten Philosophiebeamten gesagt, „es gibt hier sonst keine Arbeit für mich.“ Auch das Fräulein Moser von der Landhausbuchhandlung hätte kein Schaufenster gestalten können. Dazu muß man wissen, daß das Fräulein Moser die schönsten Buchhandlungsauslagen der ganzen Stadt gestaltet, und die mich betreffenden Schaufenster gehören zu den schönsten der ganzen Landhausbuchhandlung. So viel Liebe zum Detail! Regelrechte Kunstwerke! Das Fräulein Moser ist aber nicht nur als Dekorateuse unübertroffen. Sie trägt auch aufregende Stöckelschuhe, die ein aufregendes Klappergeräusch erzeugen, wenn sie sich auf den Weg macht, um im Lager nach einer aufregenden Buchbestellung zu sehen. Bei der Drucklegung dieses Buches werde ich meinem Verleger vorschlagen, den Umschlag mit dem Bildnis der Stöckelschuhe des Fräuleins Moser zu gestalten. Überhaupt ist es wohl einer meiner größten Wünsche, einmal in ein vom Fräulein Moser gestaltetes Landhausbuchhandlungsschaufenster zu blicken, das sowohl mein Buch zeigt, dessen Umschlag mit den Stöckelschuhen des Fräuleins Moser gestaltet ist, als auch Fräulein Mosers wirkliche Stöckelschuhe daneben. Fräulein sollte man angesichts dieser Frau natürlich überhaupt nicht sagen. Ich zitiere nur all diejenigen, die das tun, zum Beispiel den Geschäftsführer. Nun hat mich das Fräulein Moser aus der Landhausbuchhandlung aber insofern vor den Kopf gestoßen, als sie sich mir anlässlich meiner Abholung der bestellten Philosophie des Glücks von sich aus als Mitglied einer Pischeldorfer Laienschauspieltruppe zu erkennen gab, die im Rahmen der Pischeldorfer Sommerkulturtage in einer Pischeldorfer Scheune zugunsten der Kriegsopfer vom Balkan Die blaue Maus von Hugo Wiener zur Aufführung bringt. Zur Philosophie des Glücks wollte mir das Fräulein Moser gleich noch zwei Eintrittskarten für die Blaue Maus andrehen! Wäre es nicht sehr geschmacklos gewesen, zugunsten der Kriegsopfer vom Balkan über das Fräulein Moser in der Blauen Maus von Hugo Wiener zu lächeln, falls überhaupt etwas zu lächeln gewesen wäre? Eine Dramatisierung von Candide oder der Optimismus oder eine Dramatisierung der Welt als Wille und Vorstellung hätte ich mir, wenn auch vielleicht nicht ausgerechnet in einer Pischeldorfer Scheune, zugunsten der Kriegsopfer vom Balkan einreden lassen. Aber Hugo Wiener? Die letzten Tage der Menschheit: ja! Vom Nachteil geboren zu sein: ja! Die verfehlte Schöpfung: ja! Die blaue Maus: nein! Heute arbeitet das Fräulein Moser längst nicht mehr in der Landhausbuchhandlung, das Klappern ihrer Stöckelschuhe ist verhallt. Die Landhausbuchhandlung existiert gar nicht mehr. Auch das Kellertheater existiert heute nicht mehr, sondern ist durch ein Restaurant ersetzt. Nichts, rein gar nichts, deutet darauf hin, was hier einmal gewesen ist. Genau dort, wo damals die Bühne stand, befinden sich heute die Toiletten. Genau dort, wo du dich damals nach deiner Premiere verbeugt, wenn auch nur ansatzweise und fast unmerkbar verbeugt hast, junger Mann, könntest du heute dein Wasser abschlagen.

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Hauptstadt! Weltstadt! Theaterwelthauptstadt! Ein Theater neben dem anderen! Links ein Theater, rechts ein Theater, oben ein Theater, unten ein Theater, Theater wohin man schaut. Abend für Abend hebt sich Vorhang um Vorhang. Überall wird gespielt. Aus der ganzen Welt kommen die Menschen hierher, um im kardinalroten Plüsch zu versinken. Das goldenste Gold. Das plüschigste Plüsch. Die spartanischten Bühnenbilder! Und das größte aller Theater der Theaterwelthauptstadt ist das Volkstheater! Größer als das Burgtheater! Größer als das  Akademietheater! Größer als das Raimundtheater! Größer als die Josefstadt. Und natürlich größer als das Kellertheater in den Landhauskatakomben. Niemals bis zum jüngsten Gericht wird das Volkstheater abgerissen und durch ein Pissoir ersetzt werden. Hoffe ich jedenfalls. Du verlässt das Café Raimund, wo du Eiernockerl mit grünem Salat gegessen hast, und spazierst einmal rund um die Kathedrale des gottlosen Schöpfers, und noch einmal, und noch einmal. Dem Bühneneingang gegenüber im Weghuberpark sitzt der versteinerte Raimund auf einer versteinerten Bank, hat aber noch ein Plätzchen freigelassen, nett von ihm, da kletterst du hinauf, setzt dich und zündest dir eine Zigarette an. Leider fotografiert dich niemand. Leider versteinert dich niemand. Du weißt es zwar seit einem halben Jahr, aber du kannst es immer noch nicht wirklich glauben: Du wirst am Volkstheater gespielt, junger Mann! Wer sein Leben lang in dieser Stadt zubringt und die Zusammenhänge und Hintergründe kennt und hinter die Kulissen blickt, wird immer einen Grund zu Schmähung und Erniedrigung, Abwertung und Miesmachung finden. Wer das Gemauschel und die Intrigen kennt, wird wissen, dass nicht alles Gold ist, was in der glänzenden Stadt glänzt. Und er wird nicht gleich in vorauseilende Hochachtung und Begeisterung ausbrechen. Das Volkstheater hat viele Spielorte, den Plafond, den Roten Salon, den Rauchersalon, und es gastiert sogar in den Außenbezirken. Aber das geht dich nichts an. Du wirst am großen Haus gespielt! Am GROSSEN Haus!!! Auf der großen Bühne!!! Vor tausend Plüschplätzen!!! Und deswegen verwandelt sich jetzt alles hier zu Gold. Das Volkstheater bis hinauf zu seiner Kuppel pures Gold! Das Kunsthistorische, das Naturhistorische, das Museumsquartier daneben: Goldgoldgold. Die Museumsstraße, die Burggasse, die Neustiftgasse: Goldgoldgold. Das Raimunddenkmal, das Café Raimund, der Würstelbrater, das Neubaukino und die Ubahnstation so golden wie der goldene Johann Strauß im Stadtpark! Midas mein Name, sehr erfreut! Das Innenministerium muß auch irgendwo hier in der Nähe sein. Na, egal. Ich packe jetzt einmal die Trommel aus und mache einen kleinen Trommelwirbel, denn oben am Dach, vor der Kuppel des Volkstheaters ist ein Riesentransparent angebracht, auf dem in Riesenlettern schwarz auf weiß zu lesen ist HEUTE: JAN PHILIPP MÖLLER. Nein, ich trommle gleich den Zarathustra von Richard Strauß. Bamm! Bamm! Bamm! Bamm! Und Beethoven hinterher: Bammbammbammbamm! Im ganzen Land sitzen die Menschen nach einem langen Arbeitstag müde vor ihren Fernsehgeräten und drohen einzuschlafen. Aber plötzlich schrecken sie hoch und trauen weder ihren Ohren, noch ihren Augen. Denn am Ende der Hauptnachrichtenshow schaltet das Staatsfernsehen live in die Loge des Volkstheaters, wo stechenden Blickes der gestrenge alte Kulturchef des Staatsfernsehens sitzt, das fleischgewordene Kunstgewissen der Republik, das das Mikrophon mit dem roten Kopf wie ein Zepter hält und nun auf das grüne Licht wartet, um die Nation mit seinem Premierenbericht zu versorgen. Millionen und Abermillionen von Dichterinnen und Dichtern hat er von den Logen dieser Welt aus ohne mit der Wimper zu zucken zerbrochen und zerstört, und ausgerechnet du bist der einzige Mensch im ganzen Land, der jetzt nicht hören kann, was der oberste Theaterscharfrichter des Theaterweltreiches zu sagen hat, denn du bist ja, wie alle sehen, in diesem Augenblick gerade in seinem Rücken unten auf der Bühne, nimmst den Premierenapplaus entgegen und verbeugst dich. Was heißt verbeugen? Du hältst wieder einmal Gangaufsicht, weißt nicht wohin mit Kopf und Händen – klatscht selbst – noch dämlicher geht es gar nicht! - und möchtest nichts lieber als hier raus und neben Raimund eine Zigarette rauchen… Jedenfalls konntest du von deiner Position aus nicht sehen, dass sich der Kopf des Fernsehsuperkritikers live auf Sendung plötzlich und unvermutet ebenfalls in pures Gold verwandelte und meldete, es sei gerade ein großer Theaterabend zu Ende gegangen, es sei eine Überraschung, eine Entdeckung…man müsse unbedingt… aber lassen wir das. Man will ja nicht unbescheiden sein. Wenn man dem Chef der Kulturredaktion des Staatsfernsehens so zuhörte, hätte man durchaus den Eindruck gewinnen können, der soeben vom Himmel gefallene Urheber der Uraufführung sei selbstverständlich im Intercontinental oder im Imperial oder im Bristol abgestiegen und nicht in der Pension Rathaus. Und er sei auch nicht „einquartiert worden“, sondern er habe „residiert“…


Egyd Gstättner
Geb 1962, studierte Germanistik und Philosophie, lebt als freier Autor in Klagenfurt. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Letzte Buchpublikationen: Absturz aus dem Himmel. Picus, Wien 2011, Ein Endsommernachtsalbtraum. Picus Wien 2012, Hansi Hinterseer rettet die Welt. Amalthea Wien 2013, Der Haider Jörg zieht übers Gebirg. Drava Klgf. 2013, Das Geisterschiff 2013, Am Fuß des Wörthersees 2014, Das Freudenhaus 2015, alle Picus.