15. Philosophicum Lech - 3. Tag - Rahel Jaeggi. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
PLÄDOYER FÜR DIE KRITIKFÄHIGKEIT

 

15. Philosophicum Lech
GLÜCK – FREIHEIT – RATIONALITÄT
Rahel Jaeggi

Samstag, 24.09.2011, 17.00 Uhr
Neue Kirche Lech am Arlberg

Univ. Prof. Dr. Rahel Jaeggi (geboren 1967) ist Professorin für Praktische Philosophie mit Schwerpunkt Sozial- und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Jaeggis Vortrag befasst sich mit den überindividuellen gesellschaftlichen Bedingungen des Glücks und inwiefern man Kriterien zur Beurteilung der Lebensformen finden kann. Zum besseren Verständnis des Glücks verweist Jaeggi anhand zweier Filme, was Unglück ist: "Mein Glück" des ukrainischen Regisseurs Sergei Loznitsa (2010); "Die Ballade von Narayama" des japanischen Regisseurs Shōhei Imamura (1983).

Die gesellschaftspolitische Vorbedingung für Glück scheinen sich in diesen Filmen nicht zu erfüllen. Erster Film beschreibt einen Zustand der Anomie, eine Gesellschaft also, die aus mangelnden sozialen Normen, Regeln und Ordnung besteht. Wenn materielle Entbehrungen, Elend, Not und Unterdrückung herrschen, ethische Prinzipien des Zusammenlebens außer Kraft gesetzt werden, kippt die Gesellschaft in Willkür, Gewalt, Korruption und Indifferenz. Im zweiten Film geht es um eine Gesellschaft, die in einer auf geregelte Grausamkeit beruhende Tradition verhaftet ist.

Zunächst müsse man das Glück zwischen einem kurzfristigen (episodischen) und einem langfristigen Glück unterscheiden. Glück ließe sich letztendlich nicht planen und sozialtechnologisch auch nicht herstellen, meint Jaeggi in ihren Vorbemerkungen.

Die Gesellschaft selbst wäre nicht nur eine Erfüllungsinstanz, sondern stehe in einem konstitutiven Zusammenhang zwischen dem individuellen Glück und denjenigen sozialen Praktiken und Institutionen, die den Zusammenhang einer Gesellschaft ausmachen. Dies bedeutet, dass die Gesellschaft zwar Glücksmöglichkeiten bereitstellt, sie jedoch in vielerlei Hinsicht erst herstellt. Unsere Erwartungshaltungen sind von unseren Handlungsmöglichkeiten im sozialen Feld geprägt. Insofern ist unser Glücksempfinden keine individuelle Erfahrung mehr, sondern eine gesellschaftliche.

Dafür bedürfe es Lebensformen (als Pluralwort!), die sich auf verschiedene kulturellen Formen des menschlichen Zusammenlebens beziehen, die Ordnungen, Regeln und Orientierungen beinhalten und deren institutionelle Manifestationen und Materialisierungen umfassen.

Dies wirft nun die Frage nach der gelungenen Lebensform auf und welches Glück es zu erreichen gilt. Jaeggi betont, sich auf einem schwierigen Terrain zu bewegen, angesichts der modernen Orientierung am Selbstbestimmungsrecht der Individuen, ob sich daher eine Diskussion objektiver oder überindividueller Kriterien überhaupt rechtfertigen ließe.

Jaeggi plädiert für Kritik und gegen Enthaltsamkeit der Meinung und rechtfertigt dies mit der Dringlichkeit ethischer Fragen (gerade) in der Moderne. Zunehmend werden wir in der technischen Zivilisation mit Fragen konfrontiert, die eine Bewertung unumgänglich machen. Vom Eigenheim, einer Theateraufführung bis hin zur Kinderbetreuung gibt es viele Beispiele der institutionalisierten und politisch abhängig gehaltenen Erlaubnisse zur Realisierung, die zu Autonomieverlust führen. Genauso sind Kindesmissbrauch und häusliche Gewalt keine Frage des guten Geschmacks, es gehört zur ethischen sowie bürgerlichen Pflicht gegen solche Vorgehensweisen zu agieren. Es gilt daher meinungsbildend und kritikfähig zu sein. Jaeggi sieht darin eine wichtige Aufgabe der Philosophie.
In ihrer These vertritt sie die Auffassung, dass Lebensformen Problemlösungsinstanzen sind, deren Gelingen/ Scheitern aus einem Lernprozess resultiert. Es gilt daher Kriterien dafür zu finden, wann ein Konfliktlösungsprozess bzw. ethischer Lernprozess als gelungen gelten darf.

Hierbei gilt auf zwei wichtige Eigenschaften des Problembegriffs einzugehen, nämlich auf die Aufgabe und die Schwierigkeit - zwei Aspekte mit wechselnden Veränderungs- und Konfliktdynamiken -, deren Bewältigung je nach Lebensform erfolgt. Den Ausgangspunkt der Beurteilung und Kritik von Lebensformen sieht Jaeggi daher im Problematischwerden der Lebensformen sowie in deren soziokultureller Formiertheit und Bestimmtheit. Dies erst ermögliche Probleme innerhalb eines Lernprozesses zu erkennen. Problemlösungsversuche entwickeln sich historisch und in Auseinandersetzung anderer Versuche sowie im Bezug auf ihre Stellung innerhalb der jeweilige Problemgeschichte. Dabei zeigt sich der Umstand, dass Probleme in Bezug auf Lebensformen immer schon normativ verfasst sind. Anhand Hegels Theorie der Familie erläutert Jaeggi die normative Problemstellung: Wenn Lebensformen scheitern oder gelingen, so tun sie das mit Bezug auf solche Ansprüche und Herausforderungen, die sie selbst hervorgebracht haben.

Conclusio:
a) Das Scheitern einer in Krise geratene Lebensform geschieht nicht durch äußere sondern durch interne Hindernisse.
b) Sie scheitert jedoch nicht nur funktional, sondern bereits in Bezug auf ein normativ verfasstes Problem.

Dabei ist Jaeggi davon überzeugt, dass die Interpretations- und Bewertungsschwierigkeiten von Problemen und deren Lösungen sowohl subjektiver als auch objektiver Natur sind. Daher geht es um einen Lernprozess mit dessen Evaluierung wir den gesuchten Maßstab der Kritik von Lebensformen finden.

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