16. Philosophicum Lech - 1. Tag - Einführung: Konrad Paul Liessmann. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Tierische philosophische Kontroversen

 

16. Philosophicum Lech
Einführung
Tiere. Der Mensch und seine Natur
Konrad Paul Liessmann

Donnerstag, 20.09.2012, 17.30 Uhr
Neue Kirche Lech am Arlberg

Univ. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann (geboren 1953) ist Professor für Philosophie an der Universität Wien und philosophischer Leiter des Philosophicum Lech.

Der Leiter des Philosophicums Konrad Paul Liessmann gab eine aufschlussreiche geschichtliche Übersicht über die Ambivalenz in der Philosophie bezüglich des Verhältnisses Mensch und Tier.

"Seit sich der Mensch selbst dem Tierreich entronnen wähnt, gestaltet er sein Verhältnis zum Tier in höchst unterschiedlicher Art und Weise.", Liessmanns Satz zu Beginn seines Vortrages lässt keinen Zweifel offen, dass der Mensch ein Tier ist. Das Tier als bedrohlicher Feind, das gezähmt, gejagt oder gar ausgerottet werden muss, ist aber auch ständiger Begleiter - als Nutztier, im Einsatz für Therapien, in Sport und Kultur, als Haustier und Familienmitglied - und Projektionsfläche für Sehnsüchte wie dem Traum vom Fliegen und Sentimentalitäten, man denke nur an die vielen tierischen Kosenamen. Oft dient das Tier zur Erkennung menschlichen Verhaltens, und dies nicht nur in der Forschung.

Die Ambivalenz zeigt sich vor allem im Zwiespalt von Glauben und Wissen. Ist der Mensch "nur" Produkt der Evolution und "nur" ein Tier unter Tieren oder das von Gott auserkorene Genie, die Krone der Schöpfung? Nur noch Kreationisten und Speziesisten (Vertreter von Rassismus der Arten), meint Liessmann, würden letztere Position vertreten. Die einstig klare Grenze zwischen Mensch und Tier ist immer brüchiger und durchlässiger geworden, fährt Liessmann fort: "Ergebnisse der Wissenschaften, die sich mit dieser Grenze beschäftigen, sorgen für immer neue Überraschungen. Fähigkeiten wie komplexe kognitive Leistungen, Werkzeuggebrauch, Kommunikationsformen u.v.m., die einst nur dem Menschen zugeschrieben wurden, sind auch bei Tieren erkannt worden.

Liessmann hinterfragt jedoch unser heutiges Triumphgefühl, nachdem wir die Kränkung, verursacht durch Darwins Evolutionstheorie überwunden haben, nämlich nicht die Krone der Schöpfung zu sein. Ist es der Wille zur Wahrheit oder die Sehnsucht, die Bürde von Verantwortung und Moral loszuwerden?

Der Unterschied des Menschen zum Tier ist nicht mehr prinzipiell, höchstens graduell, aber das wusste der Mensch bereits seit der Antike mit seiner Definition des Menschen als animale rationale oder zoon politikon.

In der Neuzeit gab es erneut zwei kontroverse Ansichten. René Descartes (1596-1650) setzte das Tier einer Maschine gleich. Er sah im Tier einen Körper (res extensa), dem er weder geistige Funktionen, noch Leidensfähigkeit zuerkannte. Michel de Montaigne (1533-1592) dagegen äußerte in seinen literarischen Überlieferungen die prinzipielle Gleichartigkeit von Mensch und Tier. Die Debatte wiederholte sich in der modernen Philosophie bei Immanuel Kant (1724-1804) und Arthur Schopenhauer (1788-1860). Kant beharrte auf die Vernunftorientierung des Menschen gegenüber dem vernunftlosen Tier. "Wohl sprach sich Kant auch gegen Tierquälerei aus, allerdings weniger aus Sorge um das Wohlergehen der Tiere, als vielmehr aus Sorge um die Sittlichkeit des Menschen [...]" (Liessmann). Schopenhauer konnte hingegen in seiner Mitleidsethik das leidensfähige Tier miteinbeziehen. Für ihn unterschied sich der Mensch durch seinen Intellekt nur unwesentlich vom Tier, da es ein empfindsames und leidensfähiges Wesen ist.

Auch Friedrich Nietzsche (1844-1900) sah die Nähe vom Menschen zum Tier, wenn auch mit anderen Aktzenten, erläutert Liessmann. Die Exterritorialität, die Offenheit und Freiheit also, mit der der Mensch sich vom Instinkt gebundenen Tier unterscheide, sah Nietzsche eher als Defekt, denn als Vorzug: "Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat, [...]." (Zitat: Nietzsche).

Natürlich erweist sich Nietzsches Kommentar ebenfalls als Anthropomorphismus, erklärt Liessmann und erinnert, dass lange vor den Tierethik- und Tierrechtsdiskussionen der Gegenwart Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor W. Adorno (1903-1969) bereits festgestellt haben, dass das alltägliche gewalttätige Verhalten gegenüber Tieren an jene "Ahnungslosigkeit" erinnert, mit der Menschen in totalitären Systemen ihre Augen vor Schandtaten verschließen. Hier liege das Paradoxon unserer Gegenwart, behauptet Liessmann, dass trotz vieler neuer Erkenntnisse, sich praktisch in unserem kollektiven Verhalten nichts ändere und die Ausrottungspolitik sowie die industrielle Tiernutzung im Gegenteil sich weiter intensiviere. Liessmann folgert, dass das Tier eine einzige Provokation für jenes Tier bleibe, welches sich manchmal kokett als Tier bezeichne. Dem Tier angemessen und gerecht zu begegnen, schaffe jedoch nur ein Tier, welches zumindest tendenziell aufgehört hat, ein Tier zu sein, schließt Liessmann seine Einführung zum 16. Philosophicum.

LitGes, September 2012

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