86 / Umweg / Lyrik / I. J. Melodia: Origami, Schneeblind und Ikonoklast
Origami
Den Spuren der Faltlinien
ohne Anleitung folgend
öffnest du erneut das Papier
Es braucht keine Worte
ein unbeschriebenes Blatt
zusammengelegte Bilder
im Versuch, etwas zu erschaffen
Der Falz reißt
zum wiederholten Male
den Gedankenfaden
Ikonoklast
Der Schatten eines Mannes
sein verzerrtes Abbild
liegt faltig in der Zeit
verlöschend in den Sternen
Gebrochene Worte
treiben einen Keil
zwischen Zunge und Kehle
gleiten mir aus Händen
Gestern wollte ich die Welt verstehen
heute mich selbst
suche einen Pfad nach Hause
Ich will verlernen
wer ich geworden bin
was man mich gelehrt hat
zu sein
Aus meinen Augen
atme ich den Nebel
Dahinter erwachen
eine Dämmerung
und neu erschaffene Sonnen
aus lichtlosen Jahren
Schneeblind
Wir atmen vernarbte Wolken
schweigen den Winter hindurch
der Weite entgegen
bis Firn die Haut bedeckt
Die erste Sonne zieht an Nervenenden
du sprichst von Eis und Schnee
während sich meine Augen
an deiner Unnahbarkeit verbrennen
I.J.Melodia
Geb.1985 in Padua (Italien) lebt in Freiburg. Studium der Sinologie und Geschichte. Vereins- und Vorstandsmitglied bei Kein-Verlag e.V., Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift 16 Seiten sowie Mitorganisator des Kulturfestivals ZUSAMMEN/KUNST.