82 / Zwischenzeit / Prosa / Costantin Schwab: Die Elefanten vom Okavango-Delta

Im Juli 2020 berichtete mir meine Kollegin Letizia Serna von rätselhaften Ereignissen nahe des Dorfes Seronga im Nordwesten Botswanas. Innerhalb der letzten drei Monate wären hier, am Rande eines Wasserlochs beim Okavango-Delta, über vierhundert Elefanten auf unerklärliche Weise verendet. Eine Vergiftung schien unwahrscheinlich; zwar ist die Methode bei Wilderern durchaus üblich, doch hatten die Kadaver noch alle Stoßzähne, zudem zeigten sich die Aasfresser schadlos. Auch der Verdacht, Serongas Einwohner hätten aus Sorge um die Feldernte gehandelt, konnte schnell ausgeschlossen werden; die Behörden hatten Letizia versichert, dass es in diesem Jahr noch keinerlei Probleme mit den Elefanten gab, im Gegenteil: die Herden, die am Okavango-Delta zugrunde gingen, hielten ungewöhnlich strenge Abstände von den Dörfern. Die dritte Möglichkeit lag uns beiden auf den Zungen, doch von einer viralen Infektion auszugehen, entbehrte jeder Grundlage. Alle Tests, die bisher durchgeführt wurden, blieben unauffällig: bei keinem einzigen Kadaver konnten Spuren von Anthrax oder Zyanid nachgewiesen werden. Ein Massensterben ohne Todesursache, murmelte ich in den Bildschirm, ein Schlag ins Gesicht für unsere Organisation. Ich bat Letizia, zweimal wöchentlich Bericht zu erstatten, bis es mir möglich wäre, den Fall vor Ort zu begutachten. Zweimal wöchentlich, sagte sie, das könne ich vergessen, sie werde mich täglich nerven. Ich versuchte, etwas Originelles zu erwidern, scheiterte und bedankte mich, dann schlossen wir das Video.
In den folgenden Wochen ging das Sterben weiter; als sich der Sommer dem Ende neigte, lagen über tausend Elefanten am Rande des Okavango-Deltas ausgedörrt im Staub und verwesten vor sich hin, wie kaputte Leder, denen die Luft entwich.
Die Erkenntnisse, die mir Letizia über die Wochen lieferte, erhärtete unseren Verdacht, dass etwas mit den Elefantentieren in der Region grundlegend nicht stimmte; einige wurden beobachtet, die sich Stunden vor ihrem Tod völlig desorientiert im Kreis bewegten, manche schienen die Kontrolle verloren zu haben, wieder andere standen abseits der Herde, als wollten sie allein sein, oder, wie es Letizia ausdrückte: Sie wirkten, als hätten sie zum ersten Mal Schopenhauer gelesen. Wie von einer traurigen Erkenntnis paralysiert, fügte sie an, und das treffende Wort wäre vermutlich lethargisch gewesen, doch ich hütete mich, ein menschliches Adjektiv über die Tiere zu stülpen (ein Fehler, den ich anfangs noch oft beging). Entscheidender schien mir die zweite Entdeckung:
Das Wasserloch, aus dem die Elefantenherde trank, wurde von den anderen Arten gemieden. Zwar gab es keine Anzeichen, dass die Stelle kontaminiert war, weder fanden sich darin Giftstoffe noch Leichenteile (es kam vor, dass sich die Wilderer gegenseitig ausdünnten), auch fand sich weiterhin nichts in den Kadavern, doch schienen die anderen Tiere einen sonderbaren Respekt oder Ekel vor diesem Wasserloch zu haben. Noch in Berlin war ich überzeugt davon, dass der Tod der Elefanten in Zusammenhang mit dem Wasser stehen musste.
Als ich endlich einen Flug bekam und mir vor Ort ein Bild machen konnte, fühlte ich mich in meiner Theorie bestätigt. Alle Elefanten, die von diesem einen Loch am Okavango-Delta tranken, verloren früher oder später die Kontrolle über ihre Körper, sie wirkten verloren, unbeteiligt, bewegten sich ziellos, zogen Kreise; schließlich kippten sie vornüber und starben ruckartig. Ich saß mit Letizia draußen, vor unserem Zelt, über uns die astronomische Weltkarte in unfassbarer Klarheit, und ich fragte, ob sie glaube, dass es möglich sei. Natürlich ist es möglich, sagte sie, es ist völlig idiotisch, aber schon möglich, dass dieses Wasser etwas mit ihrem Geist anstelle. Aber Elefanten begehen keinen Suizid, und an Lethargie allein stirbt man noch nicht. Sie sah mich an und ich lächelte, unschlüssig, ob ihr letzter Satz als Witz gemeint war. Dann fragte sie, wann ich das letzte Mal Flammkuchen in Moabit hatte, und ich fühlte mich ertappt. Immer wusste sie, das Richtige im falschen Moment zu sagen.
Nächte vergingen, in denen ich keinen Schlaf, keine Ruhe fand. Die Debatten mit Letizia und dem Rest der Organisation blieben ergebnislos, ebenso der Austausch mit der Regierung Botswanas, von der ohnehin nicht viel zu erwarten war (erst im Vorjahr hatte ihr Präsident die Elefantenjagd wieder eingeführt).
Wir schmiedeten furchtbar unrealistische Pläne, ernst besprochene Fantasien, das Wasserloch abzusperren, die Herde umzuleiten, jedes Tier einzeln zu retten, den Sitz des Präsidenten zu stürmen. Nach und nach gaben unsere Leute auf, verließen das Land und zogen dorthin, wo sie helfen konnten, bis am Ende nur noch Letizia und ich übrigblieben. Der Sommer war vorbei, die Elefanten starben weiter und wir sahen immer noch ratlos, untätig, frustriert dabei zu. Nach einem Jahrzehnt im Tierschutz war ich Niederlagen gewohnt, doch diesmal war es anders, diesmal ließ mich unser Scheitern nicht so einfach los; ich wurde besessen von dem Ziel, diese Tiere zu bewahren, das Mysterium zu lösen, herauszufinden, wie und warum diese Tiere grundlos in die Erde sackten. Und schließlich verstand ich (nach vielen weiteren durchwachten Nächten), dass es nur eine Option gab, um den Tod der Elefanten zu begreifen: Ich musste selbst aus dem Wasserloch trinken. Ich musste mit Sicherheit wissen, ob es mich verändern, meinen Geist angreifen würde, um zu verstehen, was die dickhäutigen Massen in den Tod trieb. Ich wusste, es war absurd, ein Risiko dazu (kein Risiko, nur Dummheit, sagte Letizia, nicht ohne Bewunderung in ihrer Stimme), es konnte mich nicht abhalten. Mein Entschluss war gefasst.
Am kommenden Morgen fuhren wir zum Wasserloch, warteten einen ruhigen Moment ab, dann pirschten wir uns vorsichtig an das Ufer. Ich kniete vor der Stelle, tauchte beide Hände in das Wasser, führte sie an die trockenen Lippen. Ich schmeckte einen warmen, öligen Film auf meiner Zunge; ich schluckte. Nichts geschah. Ich nahm einen weiteren Schluck, noch einen dritten. Dann packte mich Letizia, und wir verließen die Stelle abrupt, rannten zurück zum Wagen und fuhren zum Zeltplatz. Ich testete meine Beine: die Schritte waren sicher, meine Orientierung intakt. Ich wartete eine Stunde im Schatten, es passierte nichts. Letizia nahm mir den Blutdruck, meinen Puls, sie fand keinen Unterschied. Ich spürte keinerlei Symptome, empfand weder Schmerzen, noch Übelkeit, erlebte keine Konfusionen, konnte klar und ungetrübt denken. Ich fasste mir an die Schläfen, mühte mich, an eine Veränderung zu glauben, doch da war keine. Ich lag falsch; das Wasser hatte nichts in mir ausgelöst, trug keine verborgenen Kräfte, keinen Tod in sich. Mein Geist war in Ordnung, das Elefantensterben blieb ein Rätsel.
Ein paar Tage später flog ich resigniert zurück. Letizia fragte mich (ich kann nicht sagen, in welchem Ton), ob sie mit nach Berlin kommen solle, doch nachdem meine Schultern nur langsam zuckten, blieb sie in Seronga. Nach meiner Ankunft in Tegel fuhr ich mit dem Taxi nach Moabit, besuchte die Schenke, in die wir früher immer gingen, und bestellte Flammkuchen, den einzig wahren (Lauch und Ananas), doch an dem Abend schmeckte er nach nichts. Ich bezahlte, spazierte zu Fuß nach Hause, legte mich auf die Couch und sah ein paar alte Folgen Six Feet Under, doch ich konnte nicht lachen, war nicht einmal traurig. Bald schlief ich ein. Mitten in der Nacht wurde ich vom Klingelton geweckt. Ich blickte auf das Display, es war Letizia, die wieder die Zeitumstellung vergaß; eine Sache, die mir früher unbegreiflich schien, mich aggressiv machte, obwohl ich es insgeheim sympathisch fand. Für einen kurzen Augenblick zog ich die Möglichkeit in Betracht, dass sie sich der Zeitumstellung sehr wohl bewusst war, mir jedoch etwas mitteilen musste, das nicht warten konnte; dann verwarf ich den Gedanken, drehte mich um und döste wieder ein. Am nächsten Tag rief ich nicht zurück, entgegnete die weiteren Anrufe nicht, verschlief sogar die Videokonferenz. Ich ging spät aus der Wohnung, um mich auf den Weg zu machen (wohin eigentlich?), doch mitten auf der Straße blieben meine Beine stehen; hinter mir eine Hupe, zwei Passanten, die mich auf die andere Straßenseite führten, jemand schüttelte den Kopf, es schien mich nicht zu kümmern.
Eine Faust klopfte an meine Tür, als ich abends wieder zu Hause war, eine Stimme sagte, Letizia schickt mich, ich soll nach dir sehen. Ich hob den Kopf und blickte zu meinen Pflanzen, diesen vielen, unfreiwilligen Topfpflanzen am Fensterbrett, dem Bücherregal, alle schrecklich verdurstet. Jemand hätte sie gießen müssen, dachte ich, während das Klopfen an der Tür langsam verhallte. Es war schon Nacht, als ich mit der U-Bahn fuhr. Bei der Station Zoologischer Garten stieg ich aus, ging die Stufen hoch und spazierte durch die illuminierte Innenstadt, bis ich nicht mehr wollte oder konnte, und vor mir die gelben Schilder der U9 auftauchten: ich stand wieder bei der Station Zoologischer Garten, musste mich im Kreis bewegt haben, dachte ich, doch die Verwunderung blieb aus. Ich betrat den Untergrund, drängte mich durch die maskierte Masse am Bahnsteig und tat den Schritt über die Schwelle (oder meine Beine taten es, ich musste nichts tun), der dumpfe Aufprall am Gleis ging im Einfahren des Zuges völlig unter; meine Augen starrten unbeteiligt gegen die Wand, und mein letzter Gedanke, während die Tierschatten im Mauerfries verschwanden, galt den Elefanten vom Okavango-Delta. Sie waren mir egal.

Constantin Schwab
Geb.1988 in Berlin, aufgewachsen in Kärnten. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften. Gewinner des Emil-Breisach-Literaturpreises 2019. Zuletzt erschien sein Erzählungsband „Der Tod des Verführers“ (Sisyphus).