86 / Umweg / Prosa / Belena Heselmann: Die Wanderung

"Wandern ist die Vollkommenste Art der Fortbewegung, wenn man das wahre Leben entdecken will. Es ist der Weg in die Freiheit.
-Elizabeth von Arnim"

"Willst du da wirklich lang?"
Früher hätte ich "Ja" gesagt, aber heute? Heute ist alles anders. Nun stehen wir hier. Mitten im Wald. Vereinzelte Lichtstrahlen scheinen durch das dichte Blätterdach und kommen am Boden an. Überall, wo man hinsieht, bekommt man Bäume und noch mehr Bäume zu sehen. Dabei wird einem immer davon abgeraten in Wäldern den angelegten Weg zu verlassen.
Aber ich wollte darauf ja nicht hören. Eigentlich wollten wir nur wandern gehen. Was heißt wollten? Ich musste. "Dasmacht so viel Spaß", haben sie gesagt, "Man fühlt sich danach
viel besser und befreiter". Davon merke ich gerade noch nicht viel. Ich kann mir definitiv spaßigere Situationen vorstellen als am frühen Abend durch irgendeinen Wald zu irren, weit weg von der gewohnten Umgebung und schon halb verhungert. Ich bleibe stehen. Wenn ich so darüber nachdenke, weiß ich nicht mal, wie lange wir hier schon rumirren und ob wir hier nicht gerade schonmal waren. Frustriert lasse ich mich auf einen Baumstumpf fallen, ziehe meinen Rucksack ab und suche nach einem Müsliriegel. Die anderen bleiben bei mir stehen. "Und was machen wir jetzt?" Ich zucke mit den Schultern. Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier. Dann sähe mein ganzes Leben anders aus. Die Dämmerung hat eingesetzt und im Wald wird es immer dunkler. Die anderen fangen wild an zu diskutieren, wie es jetzt weiter gehen soll. Sie sind so dumm und verstehen es nicht. Sie haben es noch nie verstanden. "Willst du nicht auch endlich was dazu sagen?" Ich schaue vom Boden auf, den ich vorher eingiebig studiert hatte, und sehe sie an. Alle Blicke auf mich gerichtet. Und alles was von mir kommt ist ein Schulterzucken. "Na toll." Genervt und augenverdrehend wenden sie ihre Blicke wieder ab von mir. Toll, jetzt ist die Stimmung ganz im Keller.
Mit dem Verschwinden der Sonne verschwindet auch die Wärme. Es war schließlich Herbst, zwar ein warmer, windstiller Tag, aber halt Herbst und das merkt man jetzt sehr gut. Die Entscheidung fällt darauf hier unser Lager aufzuschlagen. Eigentlich wollten wir dies auf einem Campingplatz machen, aber uns bleibt nichts anderes übrig. Ich habe ein Zelt für mich alleine. Die anderen nicht. Mittlerweile ist es stockfinster. Ich ziehe mir meine Kapuze tiefer ins Gesicht. Immer noch sitze ich auf dem Baumstumpf. Mein Zittern will gar nicht mehr aufhören. Wie soll es auch? Ich zittere schließlich nicht nur von der Kälte, die zu dieser Jahreszeit nachts draußen herrscht, sondern auch von der Kälte in mir drin. "Du erkältest dich noch an deinem kalten Herzen.“, hatten sie mal gesagt und anschließlich gelacht. Gelacht haben sie immer. Sie lachen, seitdem alles anders ist. Ich schließe meine Augen. Und da kommen sie wieder. Die Bilder. Die Worte. Die Schläge. Ich reiße sie wieder auf. Wie armselig, dass ich nicht mal kurz meine Augen schließen kann, ohne daran erinnert zu werden, was ich für ein erbärmliches Leben führe. Mit einem Schlafplatz, an dem man nicht schlafen kann, einem Schulabschluss, mit dem man nichts Anfagen kann, mit einem Job, der einen nicht glücklich macht, mit niemandem, der einen liebt. Manchmal wünsche ich mir, den Schlägen und Beleidigungen nicht mehr standhalten zu können, morgens nicht mehr aufzuwachen. Aber nein, das geschieht nicht. Ich halte
immer stand und wache auch immer auf. Selbst dafür bin ich zu unfähig, es so zu beenden. Warum kann ich mein Leid nicht einfach beenden? Bin ich denn wirklich so schwach? Ich stehe auf. Keine Ahnung warum oder wohin ich will, aber ich laufe los. Meine Augen haben sich schon an die Dunkelheit gewöhnt. Die anderen schlafen. Vorsichtig taste ich mich voran, durch das schwarze Nichts, welches mich umgibt. Nur vereinzelt wird es heller, sodass man Umrisse sehen kann. Es muss wohl keine Wolke am Himmel sein und der Mond ziemlich hell. Was würde ich jetzt dafür geben, die Sterne sehen zu können und mich in ihren tausenden Bildern zu verlieren. So wie damals. Ich denke nach. An die letzte Woche. Sie lief ab, wie jede andere Woche auch. Eine Beileidigung hier, ein Schlag in die Rippen da und natürlich keine Wertschätzung. Das, was mir am meisten fehlt. Anerkennung, Liebe und Wertschätzung.
Ich stolpere über eine Wurzel. War da nicht etwas im Gebüsch? Das muss ich mir eingebildet haben. Aber was, wenn nicht? Möchte ich überhaupt wissen, was da wäre? Wahrscheinlich eher weniger. Irgendwie fühle ich, dass mich was zu dem Gebüsch hinzieht. Vorsichtig komme ich dem näher, bis ich schließlich vor ihm zum Stehen komme. Dort liegt ein kleiner schwarzer Haufen. Da liegt ein Rehkids. Ganz alleine. Als es mich bemerkt, springt es auf. Jetzt stehen wir beide uns gegenüber und schauen uns an. Zumindest vermute ich es. Keiner von uns beiden regt sich. Nach einer Weile der Stille mache ich langsam einen Schritt in seine Richtung. Ängstlich zuckt es vor meiner Hand zurück, aber bleibt dennoch stehen. Ganz vorsichtig komme ich ihm immer näher, bis es an meiner Hand schnuppern kann. Nun berühre ich es mit meiner Hand und fange es langsam an zu streicheln. Es legt sich wieder hin und ich hocke mich davor.  Sein Fell fühlt sich sehr weich an und glänzt leicht im Mondschein. Hier an der Stelle sind die Baumkronen etwas lichter. Es ist wohl Vollmond.
Wir müssen schon ein ziemlich bizzares Bild abgeben, hier so mitten in der Nacht. Aber irgendetwas stört selbst mich an diesem Bild. Und da fällt es mir auf: Wo ist denn die Mutter? Wie ferngesteuert schaue ich mich um und muss feststellen, dass es immer noch dunkel ist und ich keine drei Meter weit sehen kann. Ich denke nicht, dass sie davon begeistert wäre, mich bei ihrem Kind zu finden. Ich beschließe zu gehen, auch wenn es mir schwer fällt. Irgendwie erkenne ich mich in dem Rehkids wieder. So wie es hier alleine, verängstigt, zusammengerollt
kauert und nicht weiß, wo es hin soll. Trotzdem erhebe ich mich und mache mich auf weiter zu laufen. Wo auch immer mein Ziel ist. Doch das Reh kuckt auch hoch, steht auf und gibt ein Schnaufen von sich. Vorsichitg setzt es ein Bein nach vorne. Es ist ziemlich wackelig auf den Beinen, aber es zeigt keine Anstalten sich wieder hinzulegen. Ich gehe ein paar Schritte weiter und es scheint mir folgen zu wollen. Es sucht sich einen Weg aus dem Gestrüpp. Seine Silhouette sieht mager aus. Wie lange es da wohl schon liegt?
Es wird gefühlt noch kälter. Die Bewegungen fühlen sich schwergängig an und mein Füße sind eingefroren. Das Reh ist mir bis jetzt noch kein Schritt von der Seite gewichen. Wie selbstverständlich läuft es neben mir. Wir laufen bestimmt schon eine Stunde ins Nichts doch das junge Reh scheint nicht müde zu werden. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich kann kaum meine Augen offen halten. Mich wundert es, dass meine Beine mich überhaupt noch tragen können und schließlich bleibe ich stehen. Wohin will ich überhaupt? Ist es das, was ich möchte? Stundenlang nachts im Wald herumlaufen, um wieder nach Hause zu kommen. Ein "Zuhause" wo einen nichts erwartet, außer Beleidigungen, Piesackerein und Schläge. Warum gerade ich? Was habe ich meinen Eltern getan, dass man mich so hassen muss? Reicht meine bloße Existenz schon dafür aus, um mir all das Leid hinzuzufügen? Das Rehlein stubst mich an und scheint verwirrt, dass ich stehen geblieben bin. Ich schaue einfach zurück. Es stubst mich noch einmal an und schaut wieder nach vorne, so als ob es mir sagen will, dass ich weiter gehen soll. Und schließlich mache ich es auch. Was bringt es mir stehen zu bleiben, hier mitten im Wald? Was bringt es mir stehen zu bleiben, in meinem Leben? Das Reh läuft jetzt voraus. Ich folge ihm einfach und bin in Gedanken bei meiner Familie. Zwischendurch werde ich von vorne beobachtet, ob ich auch ja noch weiterlaufe. Ich weiß nicht genau, wie lange wir so hintereinander gelaufen sind, aber auf einmal kommen wir an einer Lichtung an. Hier weht der Wind etwas stärker und bläst mir durch meine Haare. Ich kauere mich mit dem Reh zusammen, um uns warm zu halten. Gedankenverloren beginne ich wieder das junge Tier zu streicheln. Die Aussicht ist wunderschön. Man kann sogar den Himmel mit den Sternen sehen. Ich fand die Sterne schon immer fasziniernd. Sie geben einem ein Gefühl von Weite, Unendlichkeit, Freiheit. Mein Blick richtet sich wieder auf das Rehkids. Es hat seinen Kopf auf meinen Schoß gelegt und scheint friedlich zu schlafen. Das würde ich auch gerne. Friedlich schlafen. Und ich sehe auf einmal mein Zukunfts- Ich in dem Tier. Wie ich später auch so friedlich schlafen werde. Ich muss mir das nicht gefallen lassen, was meine Eltern machen. Die ganzen schlimmen Worte, gegen die ich mir schon vor Jahren eine Mauer in mir aufgebaut habe, welche aber immer wieder zu bröckeln beginnt. Die Schläge und Tritte für Kleinigkeiten, weil sie schlechte Laune haben. Diese Genugtuung will ich ihnen nicht mehr geben. Ich lehne mich
an einem Baum an und schaue nochmal in die Sterne. Ja, ich kann das schaffen. Genauso, wie das Rehkids ohne Mutter überlebt hat, überlebe ich es auch. Ich schließe meine Augen.
Ich bin stark, das weiß ich jetzt und mich kann nichts mehr aufhalten. Nichts und niemand mehr. Es soll nie wieder einem Kind so ergehen, wie mir. Ich will mich stark für die machen, die es selber nicht können. So wie ich. Damals. Als ich noch mein altes Ich war. Das neue Ich kann das. In meinem Leben hat es zu viele Umwege gegeben. Ich habe Sachen mit mir machen lassen, die mich von meinem Traum, meinem eigenen Weg abgebracht haben und das hört jetzt auf. Schluss mit den Umwegen. All das hört jetzt auf. Ab jetzt kenne ich nur doch geradeaus auf direktem Wege.
"Das macht so viel Spaß", haben sie gesagt, "Man fühlt sich danach viel besser und befreiter". Und jetzt kann ich verstehen was alle am Wandern so toll finden. Man fühlt sich danach wirklich freier.

Belana Heselmann
Der Text „Die Wanderung“ wurde inspiriert durch meinen Hang zur Natur und zum Wandern. Neben meinen Abenteuern koche ich sehr gerne und beschäftige mich viel mit Lebensmitteln. Am liebsten mit selbst Angebauten. Achja und nebenbei studiere ich auch noch, aber das an anderer Stelle.