86 / Umweg / Prosa / Katharina Rieder: Die (Un-)Glückstour

Als junger Mann kreierte ich ein Bild. Strich für Strich skizzierte ich alle meine Wünsche und Ziele auf einem Blatt Papier. Die anfänglich zögerlich wirkenden Bleistiftstriche konkretisierten
sich mit der Zeit, bekamen Konturen, färbten sich bunt. Unter das fertige Gemälde kritzelte ich schwungvoll meine Initialen. Ein eleganter güldener Rahmen gab dem Ganzen eine Begrenzung, rundete das Gemälde ab. Die kahle weiße Wand gegenüber dem Bett, erschien mir der richtige Platz dafür zu sein.
Jahr für Jahr ähnelte mein Dasein mehr und mehr, dem des Gemäldes. Ich marschierte stur geradeaus, meinen Zielen direkt entgegen. Riskierte kaum einen Blick nach rechts oder links. Mein Lebensbild wurde deutlicher. Ich bewohnte eine Penthouse-Wohnung links am Fluss, wo luxuriöse Häuser errichtet wurden und im Frühling sattes Wiesengrün meine Augen erfreute. Ich mochte es, wenn der Inn mit seiner salatgurkenartigen Farbe ruhig dahinfloss. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er das ganze Jahr so ausgesehen. Doch nach einem Unwetter, wenn der Schlamm aus den Seitentälern daherkam, dann handelte es sich um eine braune Suppe, die an verwässerten Kaffee mit einem Schuss Milch erinnerte. Da wurde ich schnell übellaunig. Ich mochte nichts Neues und Überraschungen hasste ich sowieso!
Ich weiß nicht mehr genau, wann die Farben hinter der Glasscheibe abzubröckeln begannen. Es war vermutlich ein schleichender Prozess, der in einen speziellen Tag mündete, an dem
sich schlagartig alles änderte. Ich erwachte durch das penetrante Klingeln des Weckers. Mein Blick durchbohrte das Gemälde. Irgendetwas daran störte mich plötzlich.
„Hansi! Was machst du denn da in aller Frühe?“, fragte mich Kathi, meine Frau.
„Kathi, der Rahmen muss weg! Sofort!“
Meine Frau setzte sich im Bett auf. Sie beobachtete, wie ich die Einfassung entfernte. Anschießend betrachtete ich das Bild.
„Sieht schon viel besser aus! Findest du nicht?“
Kathi sah mich mit geweiteten Augen an und blieb stumm.
„Ist schon ganz schön spät! Ich muss los!“, rief ich aus.
Ich küsste meine Frau flüchtig auf die Wange und hechtete über das Treppenhaus nach unten. Wie immer nahm ich den direkten Weg zur Arbeit. Die Erfahrung lehrte mich, dass alles Mögliche passieren konnte, wenn man von der gewohnten Spur abkam. An diesem Tag war die Brücke gesperrt! „Umleitung!“. Mir blieb nichts übrig, als umzukehren und die „Unglückstour“ zu nehmen. Da ging ich ansonsten nie lang! Von einer Minute auf die andere strömten hundert Menschen aus Bahn und Linienbussen. Ich schloss mich der Meute an und ließ mich über die breite Bahnhofsbrücke treiben. Am Ende staute es sich. Ich nahm gezwungenermaßen die Treppe nach unten, passierte dort die Unterführung. Und dann geschah es: Ich stieg im Halbdunkeln vollkommen unerwartet in eine noch dampfende Hundekacke.
„Scheiße!“
Hektisch streifte ich mit meinem Fuß über den Gehsteigrand. ‚Herrje, auf dieser Seite des Inns gibt es nicht einmal einen Zugang zum Wasser!‘ Auf dem restlichen Weg bis zu meiner Arbeit stieg mir der penetrante, faulige Geruch des Hundekotes, der sich in den Rillen meiner Schuhe festgesetzt hatte, in die Nase.
Im Büro angekommen, musste ich feststellen, dass meine Lieblingstasse verschwunden war. Jeder in meinem Team wusste, dass die Tasse mit der Aufschrift „Hier bin ich der Chef!“ mir gehörte. Anstatt mich auf einen wichtigen Termin mit dem Vorstand vorzubereiten, zermarterte ich mir den halben Vormittag den Kopf darüber, was wohl mit meiner Tasse geschehen war. Gedanken wie ‚Missgeschick, Diebstahl oder Mitarbeiterboykott‘, schossen durch die Gewinde meines Gehirns. Die Konzentration für diesen Tag war dahin. Meine Muskeln spannten sich an und mein Herz flatterte nervös, wie Mücken über fauligem Obst.
Das fiese Ziehen unterhalb des Bauchnabels steigerte sich bei der Aussicht auf die bevorstehende Besprechung mit den neuen Co-Geschäftsführer. Ein unerfahrener Yuppie mit Vollbart und teuren Turnschuhen zum maßgeschneiderten Anzug.
Was soll ich dazu sagen, außer: „Bart zu lang, Verstand zu kurz!“
Diesen Typ setzte mir der Vorstand kurz vor meiner Pensionierung vor die Nase. Er passte so gar nicht in mein selbst kreiertes Bild.
Ich ging also in den Besprechungsraum. Und was war das Erste, das ich dort sah? Na? Genau, meine Tasse in der Hand des Neuen. Ich konnte nicht anders, musste unentwegt darauf starren. Mit heißen Ohren und hochrotem Kopf setzte ich mich. Ich überlegte, ob es reine Provokation oder einfach nur Dummheit von ihm war.
Der Vorstand traf ein. Der Neue startete mit seiner Präsentation. Ich war nicht richtig bei der Sache, weil ich unentwegt über den Tassenvorfall sinnieren musste. Es ging um innovative
Umstrukturierungsideen, die mich langweilten. Während der Sitzung riss einer der Vorstandsmitglieder ungehalten das Fenster auf, weil es nach Hundescheiße stank. Meine Mundwinkel zogen sich kaum merklich in Richtung des Neonlichts an der Decke.
Auf einmal schwafelte der Neue von Wachstumsbremsen. Die Begriffe „Feigheit, Faulheit und Fixierung“ ploppten auf Folie dreizehn auf. Anschließend thematisierte er Vorschläge neuer strategischer Firmenziele.
‚Totaler Schwachsinn!‘
„Herr Seissl, was sagen sie dazu?“, wurde ich gefragt.
„Schwachsinn!“, flutschte es unbedacht aus meinem Mund.
Während man mich entgeistert ansah, blickte ich verwirrt auf den großen Bildschirm. Ich las den Slogan „Gemeinsam erfolgreich zu neuen Ufern!“ laut vor. Dies hatte einstimmiges Nicken zur Folge. Dann brachte ich amüsiert Argumente ein, die gegen eine Neuausrichtung der Firma sprachen. Wenn ich ehrlich bin, wusste ich nicht, was von mir erwartete wurde.
Ich verstand nicht, warum sich nach all den erfolgreichen Jahren unter meiner Leitung alles verändern sollte. Ich kam zum Abschluss.
Der Vorstand wünschte uns viel Erfolg bei der gemeinsamen Umsetzung. Ausgerechnet der Neue, das „geistige Nackerpatzl“, erhielt die Projektleitung. Als sich die Türe von außen schloss, verlor ich die Fassung!
„Hier bin immer noch ich der Chef, du depperter Depp!“ brüllte ich und entriss meinem Gegenüber die Tasse. Dabei schwappte ein Rest des Kaffees auf mein blütenweißes Hemd und verfärbte es unschön. Die Farbe erinnerte mich erneut an den Inn, ihr wisst schon nach einem Unwetter, wenn der Schlamm aus den Seitentälern daherkommt.
Ungehalten verließ ich mit meiner Chef-Tasse in der Hand den Raum. Der Neue stürmte hinter mir aus dem Besprechungszimmer und folgte mir. Er prophezeite, dass ich mit dieser Tour nicht durchkommen würde. Sein aufmüpfiger Gesichtsausdruck brachte mich schneller als ein Wimpernschlag in Rage. „Du kannst mir mal den Schuh aufblasen! Ich gehe jetzt! Bin` bis auf Weiteres krank! Kannst` deinen Scheiß ab sofort allein machen!“, schmetterte ich ihm entgegen und weg war ich.
Das war in 50 Dienstjahren wirklich noch nie vorgekommen, dass ich krankfeierte und alles hinter mir ließ! Einmal Neues gewagt, war das Tier in mir geweckt. Vor der Firma zog ich meine sündhaft teuren, mit Hundekot verschmierten Schuhe aus. Ich deponierte sie auf dem protzigen Auto des „Möchtegern-Neu-Strukturierers“. Barfüßig mit beflecktem Hemd, gelockerter Krawatte und dem Sakko lässig über der Schulter, nahm ich das erste Mal seit Jahren einen Umweg durch die Stadt. Der Pflasterstein unter meinen Füßen fühlte sich rau und warm an. Der Duft von Lavendel vermischte sich mit den Fettgerüchen der Pommes-Bude von gegenüber.
Frau Moroder, eine Nachbarin, kam mir entgegen. Ich pfiff ihr hinterher. Das wollte ich immer schon einmal tun, hatte mich bisher aber nie getraut. Sie drehte sich zu mir und schenkte mir ein herzerwärmendes Lächeln. Irgendetwas in mir begann sich zu regen. Es fühlte sich fantastisch an. Beschwingt schlug ich einen Weg ein, den ich nicht kannte. Mein Blick richtete sich nach oben, zu den Dächern der Häuser. Interessiert betrachtete ich die Balkone, Verzierungen und Schornsteine. Um die Ecke kaufte ich einen Bund roter, wohlriechender Rosen für Kathi.
Wieder zu Hause, trat meine Frau nackt aus unserem Badezimmer. Sie blickte auf, zuckte erschrocken zusammen. Ihre Brüste wippten dabei aufreizend. Ich spürte eine ungewohnte Regung in meiner Leistengegend, ganz ohne die kleinen, blauen Pillen.
„Hansi, hast du mich erschreckt! Was machst du denn schon hier? Und wie siehst du überhaupt aus?“
„Es hat sich ‚Ausgehansit‘!“
Schnurstraks schritt ich in unser Schlafzimmer, hängte das Bild von der Wand. Ich zerfetzte es mit Genugtuung. Handflächengroße Schnipsel segelten auf den Boden.
„Was machst du denn Hansi?“
„Es ist Zeit für Neues!“
„Hans, du machst mir Angst!“
„Ja“, gab ich zu, „ich ängstige mich sogar vor mir selbst!“
Und dann zog ich Kathi leidenschaftlich zu mir heran, küsste sie auf ihren schönen Mund. Ich liebte sie spontan am Fußboden zwischen den Fetzen meines selbstkreierten Bildes. Seit jenem Tag entscheide ich mich gelegentlich für die „Glückstour“ und andere Schleichwege und ich fühle mich quicklebendig dabei!

Katharina Rieder
Wenn die Dunkelheit den Tag verschluckt und die Kinder träumen, nutzt die 1980 geborene Tirolerin die Stille der Nacht, um zu schreiben. Die Prozessmanagerin einer Fachhochschule findet tagsüber bereichsübergreifende Lösungen für optimale Ergebnisse. Schreiben ist das i-Tüpfelchen ihres Lebens. Ihre Prosa sowie Lyrik-Texte sind in verschied. Anthologien vertreten. Folge mir auf Ina Rieder | Facebook