90/Unter Wolken/Prosa/Raven E. Dietzel: Sicher, Hilflos, Jenseits

Sicher
Er saß mit Sohn und Enkel am Kaffetisch im Esszimmer, drei Generationen von Partnerinnen saßen dabei und schwiegen, weil die Männer es verstanden, das Reden zu übernehmen. Er erzählte von dem arbeitsreichen Leben, das hinter ihm lag, von Tagen und Ereignissen, die viele Jahre in der Vergangenheit lagen. Sohn und Enkel und Partnerinnen hörten seinen Erzählungen andächtig zu. Doch seit ihr die Demenz diagnostiziert worden war, sprach seine Frau manchmal dazwischen.
„Und dann lag Schnee, und der Zug ist nicht gekommen.“
Die Blicke, die ihr von allen Seiten über den Tisch zugeworfen wurden, waren verwirrt, voller zurückhaltender Verdächtigung.
„Welcher Schnee?“, fragte der Sohn.
„Ja, wegen dem Schnee!“, bekräftigte sie noch einmal.
„Welchem Schnee?“, bekam sie noch einmal zur Antwort.
Da wurde in ihrem Gesicht die Erkenntnis sichtbar, dass sie nicht verständlich war. Traurig schwieg sie und ihr Mann übernahm wieder das Wort: „Jedenfalls war da noch nichts gebaut, von hier bis zum Bahnhof nicht.“, erzählte er seine Geschichte weiter, wo er unterbrochen worden war. Am Kopf des Tisches saß seine Frau, die Hände im Schoß gefaltet, das bekümmerte Gesicht gesenkt.
Nachdem er davon erzählt hatte, wie er als Junge übers freie Feld hin zur Bahnlinie laufen konnte, berichtete er davon, wie er später auf dem Weg zur Arbeit am selben Bahnhof festgesteckt hatte, weil im Winter die Trasse blockiert gewesen war. Er erzählte die gleichen Geschichten immer wieder, erzählte sie in der gleichen Reiheinfolge, mit den gleichen Formulierungen, nur manchmal fügte er ein Detail ein, das zu dem Anlass passte, der ihn die Geschichte erzählen ließ. Es waren auch die gleichen Leute, denen er sie immer wieder erzählte, Sohn und Enkel mit den Partnerinnen dabei. Bis vor Kurzem hatte ihn keiner je unterbrochen.
„Ja, so ist das.“, sagte er, als zum zweiten Mal der Grund der Kaffeetassen sichtbar geworden war, sein Sohn dezent den Stuhl nach hinten rückte, weil er für den Nachmittag noch Arbeit zu erledigen hatte, dessen Partnerin leise Untertassen stapelte, und sein Enkel wiederum seiner Partnerin etwas über die Abendplanung ins Ohr raunte. „Da kann man nichts machen.“, sagte der Alte. „Man kann nicht Vorwärts schauen, sag ich immer.“
Umseitiges Erstarren. Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen.
„Nein, Quatsch.“, fiel ihm auf. „Man muss immer Vorwärts schauen. Immer vorwärts schauen - das sag ich immer!“
Und alle nickten erleichtert.

Hilflos
Zitternd saß sie da, die von Federn bare rote Stelle seitlich auf dem Rücken, den Flügel so weit geöffnet, dass er vom Erdboden gestützt wurde, über dem sie flach kauerte. Hin und wieder schloss sie die Augen für eine Weile halb, und weil sie mit dem stecknadelkopfgroßen Punkt in der Mitte dann nicht mehr lidlos rund und alarmbereit wirkten, sondern die Pupillen dann in den seitlich zugespitzen Flächen etwas verborgen lagen, wirkten sie fast menschlich. Doch eine solche Anthroposifizierung hätte es eigentlich nicht gebraucht, um Mitleid mit ihr zu haben, denn das Zittern sprach für sich. Wie hatte es eine Zeit geben können, in der Menschen glaubten, Tiere empfänden keinen Schmerz?
Doch obwohl sie so offen dasaß, liefen alle Spaziergänger vorbei, und Mütter zeigten ihren kleinen Kindern rasch etwas in der anderen Richtung. Einmal blieben zwei eine Weile stehen und berieten sich, was zu tun war. Sie riefen den Naturschutzbund an und einen Tierarzt, doch weil sie niemanden fanden, der Verantwortung für eine verletzte Taube im Stadtgebiet übernehmen wollten, wussten sie nicht, was sie tun sollten, denn die Verantwortung behalten wollten sie auch nicht.
Noch während sie berieten, kam eine andere Spaziergängerin mit einem kleinen gelben Terrier vorbei. Der Hund war nicht aggressiv, er wagte nur einen neugierigen Vorstoß mit seiner Hundenase in Richtung des verletzten Tiers. Da kam die Taube plötzlich auf die Beine und in Angst vor dem vermeintlichen Angriff lief sie in Todesangst die Böschung hinaus.
Sie streckte reflexartig die Flügel aus, doch zu fliegen war aussichtslos. Also lief sie noch einige Schritte weiter, bis sie oben am Maschendrahtzaun angelangt war, der das Wohngrundstück dort begrenzte. Das war für die beiden helfunwilligen Helfer das Zeichen, dass sie die Verletzung vielleicht überschätzt hatten und es unfair wäre, den Vogel durch einen Einfangversuch zu ängstigen, der sowieso nicht gelingen konnte. Und so hatten auch sie mit ihrer unüberlegten Aufmerksamkeit nun die Entschuldigung gefunden, sich ebenfalls abzuwenden und weiterzugehen.

Jenseits.
Seine Flügel taumelten wie einzelne, riesenhafte Federn und tränkten den Platz in Feuerwerksgeruch und Blindheit. Zwei Schicksale waren ihm versprochen gewesen: Die Sonne zu berühren, und zu fallen. Bis auf die Kinder wusste das auf den Bänken ringsherum jeder, noch bevor der Blondling seinen ersten Schritt getan hatte. Die Schmauchspuren im weißen Leinen verrieten, wie oft er gefallen war – er tanzte dennoch. Ich kauerte, nasses Kopfsteinpflaster unter tauben Fingern, lehnte meine Schulter an deine, und während Ikarus fiel, glaubte ich, dass wir zwei noch eine Chance haben könnten. Doch den Heimweg gingen wir wieder ohne die Berührungen von früher.

 

Raven E. Dietzel
Geb.1995 in Lippe, lebt in Erfurt. Studierte Philosophie, Germanistik und Linguistik und schreibt menschliche Literatur diverser Gattungen und Genres. Werke in dreißig Anthologien und Zeitschriften sowie Onlineformaten und im Radio . 2020 Jurypreis im Literaturwettbewerb des Fritz-Hüser-Instituts Dortmund. Sicherheit zum Schreiben bietet ihr die Nachtarbeit bei der Post, siehe: redietzel.de