90/Unter Wolken/Prosa/Reinhard Dellbrügge: Schnee

Das ganze Dorf ist in Schlaf versunken. Die Straßen sind verlassen, hinter keinem Fenster brennt noch Licht. Unter verschneiten Dächern geistern die Menschen durch ihre Träume. Ein fast endlos langer Güterzug fährt am Dorf vorbei. Schließlich verklingt das Geräusch seiner rollenden Räder in der Ferne. Wieder kehrt tiefe Stille ein. Ein wenig Schnee rieselt von einigen Zweigen.
Später wirbelt der Schnee in der Luft. Die Häuser sind erleuchtet, Motoren laufen, Autoscheiben werden freigekratzt, –geschabt und –gewischt. Sehr vorsichtig setzen sich die Fahrzeuge in Bewegung. Vor den Scheinwerfern tanzen die Flocken. Vermummte Fußgänger sind unterwegs zum Bahnhof. Die Züge haben Verspätung.
Dann ist es wieder sehr ruhig. Die Straßen sind leer. Es schneit noch immer.

 

Reinhard Dellbrügge
Geb. 1952 in Münster, schreibt Gedichte (vor allem Haiku), Aphorismen, Kurzprosa, Rezensionen und Essays. Veröffentlichungen u.a. in Literaturzeitschriften und Anthologien.