90/Unter Wolken/Prosa/Wenzel Michalk: Georgien Impressionen MMXXI

I
Die ersten Sonnenstrahlen treffen die Wüste in Vashlovani und vertreiben die nächtliche Kälte binnen Sekunden. Eine Schlange, Gyurza, liegt auf dem Sand und wärmt sich. Erst gestern verlor ein tollkühner Tourist bei einem Selfie mit einem ihrer Artgenossen einen Arm. Ihr Name, Gyurza, ist im Land gefürchtet, doch nur hier, ganz im Südosten, wo die Sonne auf der Schwelle zwischen Kleinem und Großen Kaukasus, zwischen Georgien und Aserbaidschan aufgeht, kann man sie finden.

II
In Sighnaghi, einige Kilometer nordwestlich, sitzt ein junger Mann auf der Terrasse eines Gasthauses und blickt über das sich vor ihm ausbreitende Tal. Kaffeeschlürfend bestaunt er die morgenbeschienene Ebene, welche vor ihm leuchtet, ehe sie sich im Norden in die wolkenumwobten Gipfel des Felsengebirges erhebt. Er überlegt, wie er diesen Anblick in einem Gedicht beschreiben kann und verbrüht sich die Zungenspitze am nächsten Schluck Kaffee.

III
In Telawi beobachtet ein alter Streuner den Eingang einer Bäckerei. Er wedelt mit dem Schwanz, als sich die Tür öffnet und sich der Mann, der jeden Morgen kommt, davor stellt und seine Zigarette entzündet. Eine ältere Frau mit Kopftuch kommt heraus, scheltet den Mann und wirft dem Hund ein altes Khachapuri vom Vortag hin, das er sogleich verschlingt. Als er fertig ist, legt er sich unter eine Bank und beobachtet die Straße, auf der der Verkehr Fahrt aufnimmt.

IV
Nur sechzig Kilometer nördlich von hier, jedoch dreitausend Meter höher, mehr als sechs Stunden Autofahrt und zwei Tage Fußmarsch entfernt und jenseits zu vieler Bildstöcke, treibt ein tuschetischer Schäfer seine Herde über eine Leite. Die letzten Tage war es warm und es liegen Sommergewitter in der Luft. Erst letzte Woche war ein Blitz in eine Schafherde am anderen Ende des Landes eingeschlagen und hatte fünfhundert Tiere, eine ganze Lebensgrundlage, eine Identität, mit einem Lidschlag ausgelöscht. Er muss heute die Tiere eine Ebene tiefer treiben. Zu viele Gewitter dieses Jahr.

V
Des Schäfers Sorgen sind in Tiflis unbekannt. Die Stadt vibriert, ein Kessel aus Motoren und Menschen, überwacht von der über der Festung Narikala thronenden Mutter Georgiens, kühl geteilt durch die Kura. Der Fluss ist längst kein gigantisches Hindernis mehr, wie er es noch im Mittelalter war und wie der zwischen Armut und Reichtum fließende Menschenstrom mahlen die Zahnräder der Seilbahn unermüdlich einem weiteren heißen Tag entgegen.

VI
Im Zentrum Goris, so scheint es, ist die Zeit angehalten. Hier erinnert ein Museum an den berühmtesten Georgier, denn hier steht sein Geburtshaus. Eine alte Frau mit Kopftuch sitzt in der heißen Mittagssonne davor und verkauft sein Gesicht auf Postkarten, Postern und kleinen Büsten. Unzählige Orden mit Hammer und Sichel stehen ebenfalls auf ihrem Tischchen zum Verkauf. Vergessen wurden hier nur etwa zehn Millionen Tote.

VII
Irgendwo auf einem Grat im Borjomi Nationalpark wird eine Gruppe Wanderer von einem Gewitter überrascht. Aus dem klaren, blauen, die Berglandschaft überspannenden Himmel wird ein schwarzes Tosen, dessen Blitze von Zeit zu Zeit den Abgrund über ihnen erleuchten. Sie schlittern und rutschen den Berghang hinunter, werfen alles Metall zu Boden und machen sich ganz klein. Nach einer Stunde ist der Spuk vorbei, doch der Regen währt den restlichen Tag. Erschöpft und durchnässt, doch so lebendig wie nie, erreichen sie nach Stunden am Abend die Hütte im Tal. Das heilende Wasser ist nicht, was sie fortan mit diesem Ort verbinden.

VIII
Davon ist in Kutaissi nichts zu spüren, wenngleich die Hitze auch hier noch ihre donnernden Blagen zusammenziehen wird. Die alte Hauptstadt ist ebenfalls ein Kessel, mit Fingern aus Straßen, die sich die Zutaten für das Leben in der Großstadt aus den umliegenden Dörfern saugen. Tsolikauri, Khachapuri, Sulguni, Khinkali, Saperavi, Pkhali, was anderswo touristisch anmutet, wirkt hier besonders echt. Zwischen Rindern, Schafen, Schweinen, Wein, streunenden Hunden, Kirchen und Abgasen ist Kutaissi die georgischste Großstadt Georgiens.

IX
Nördlich und nordwestlich davon beobachten die Besatzer das Geschehen mit Argusaugen. Die Lage ist stabil.

X
Die Sonne versinkt über dem Schwarzen Meer, im selben Land, wo sie die Wüste erweckte und die Berge erzittern ließ. Sonnengebräunte Menschen öffnen unter Palmen einen Sekt oder werfen leere Bierdosen von den höchsten Wolkenkratzern zwischen Großem und Kleinem Kaukasus. Die Eingänge der Casinos flackern und der Asphalt vibriert von der Tanzmusik. Einer, dessen letzte Etappe seines Wanderabenteuers im Zelt auf der Kuppe eines Berges heute Morgen begann, schlendert am Strand entlang. Seine Blicke ertrinken im dunkelnden Inferno am Horizont und für einen Moment bleibt die Zeit stehen.

 

Wenzel Michalk
Geb. 1994 in Halle an der Saale. Abitur 2013 in Krefeld. Nach einem Freiwilligendienst Studium an der Universität Bonn Deutsch und Geographie für das Lehramt an Gymnasien. 2019 Publikumspreis des Literaturfestivals „Blattgold“ der Universität Bonn. 2021 zweiter Platz beim Kurzgeschichtenwettbewerb „Putlitzer Preis“.
Lebt in Bonn.