Heil-Froh / Etcetera 88 / Prosa / Christine Roth: Der Tanz des Lebens

Auf Socken überquere ich das Parkett, steuere auf den kleinen Menschenpulk in der Mitte des Raumes zu. Ich ziehe die Schultern hoch und reibe meine Handflächen aneinander. „Is kalt?“, begrüßt mich Jos. Er nimmt meine eisigen Hände in seine Pranken, formt eine schützende Kugel. „Komm, Mädchen!“ Dann zieht er mich an sich. „Mädchen“, gluckse ich an seiner Schulter. Die Arme umeinander geschlungen verweilen wir einen Moment. Unsere Begrüßungsformel in einer Zeit, in der social Distancing der moralische Wert beim Umgang miteinander ist, das Credo der Vernunft bedeutet, das uns wie Marionetten steuert. Jedenfalls außerhalb dieses geschlossenen Zirkels. Kaum haben wir uns gelöst, umarmt mich Annemie freundschaftlich, streicht mir über den Rücken. Die Sanftheit ihrer Berührung schenkt mir Frieden. Nur kurzzeitig. Die Erinnerung des Körpers gaukelt mir vor, Manon steht mir gegenüber. Was sie wohl sagen würde, wenn sie mich so sähe? „Das sind also deine neuen Freunde.“ Manon verzieht die Lippen zu einem schiefen Lächeln und hebt eine Augenbraue. „Na ja, jeder, was er verdient.“ „Ja“, möchte ich schreien, „das ist die Gemeinschaft, zu der ich jetzt gehöre.“ Ich bin jetzt Teil der Biodanza-Gruppe und es fühlt sich an, als wäre ich in einem Paralleluniversum gelandet, in dem sich Menschen abstandslos begegnen, niemand nach seinem Impfstatus gefragt oder ausgegrenzt wird. Wo alles sein kann und nichts muss. Und die Angst hat keinen Zutritt, der wird einfach die Tür vor der Nase zugeknallt. Der heutige Abend steht unter dem Motto Freiheit und Frohsinn und tatsächlich sind alle glücklich, nach der staatlich verordneten Zwangspause wieder tanzen zu dürfen. Wir formieren uns zum Kreis. Als wir uns an den Händen fassen und uns lachend im Reigen bewegen, muss ich an die Ausgelassenheit von Kindern denken. Ein homogenes Gebilde mit einem einzigen Streben: sich frei bewegen. Ich summe die Melodie von Halleluja mit.
Als das Virus mutierte, ging auch mit Manon Eigenartiges vor. Mit spitzen Fingern öffnete sie die Türen meiner Wohnung, schloss sie wieder mit einem Hüftschubs und gab Glaubenssätze von sich wie: „Hygiene, Charlie, Hygiene ist das A und O.“ Sie war eine kluge und informierte Frau und trotzdem dachte ich immer, was erzählt sie nur für einen Quark. Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriff, was in ihr vorging. Es war die Angst, einfach nur die Angst vor dem Sterben, die Regie führte. Immer öfter meinte Manon: „Die Menschen sind borniert und fahrlässig, wenn sie das Virus auf die leichte Schulter nehmen.“ Ich hielt dagegen: „Ein gewisses Risiko gehört nun mal zum Leben dazu. Die Natur findet einen Weg. Der sind Vermummung, Verbote und Ausgangssperren sowasvon egal.“ Wir standen mit beiden Beinen fest auf unseren Standpunkten und wichen keinen Millimeter davon ab, auch wenn wir saßen. So wie an jenen Dienstag vor einem Jahr an meinem Küchentisch. „Hab ein Impfangebot“, sagte sie feierlich. „Musst du nicht annehmen.“ „Termin steht schon. Was ist mit dir? Gehörst schließlich auch zur vulnerablen Gruppe.” Manon zerstörte das Milchschaumherz auf ihrem Cappuccino, das sie liebevoll kreiert hatte. „Danke der Fürsorge!“ Ich nickte und fand es erstaunlich, dass ich erst so alt werden musste, um auf Begriffe wie vulnerabel zu stoßen. Was im Übrigen noch zu beweisen war. Ich fühlte mich pudelwohl, was daran liegen konnte, dass ich mich vernünftig ernährte, mich von Alkohol, Nikotin und Drogen fernhielt und mich ausreichend bewegte. Meistens.
Wir verteilen uns gleichmäßig im Raum und lauschen in uns hinein. Jeder für sich, auf seine eigene Weise, auf der Suche nach allem, was tief in uns verschüttet liegt: Authentizität, bedingungslose Liebe, Verständnis, Kraft, Frohsinn, Freisein. Die Musik ist lieblich, eine Violine schickt zaghaft ihre Töne auf die Reise. Maria hat die Augen geschlossen, wirkt, als würde sie ganz in sich ruhen. Sie wiegt die Hüften und kreist mit den Schultern. Ihre Arme schlängeln durch die Luft, liebkosen die Taille, den Bauch, die Oberschenkel. Wie gebannt beobachte ich die sinnliche Performance einer Schlangenfrau, die vor wenigen Tagen ihren siebzigsten Geburtstag gefeiert hat. So viel zu vulnerabel.
„Ach, Manon“, sagte ich und schickte einen Seufzer hinterher. „Weißt doch, dass ich diese pauschale Gleichmacherei nicht mag. Schublade auf, Ü 60 aufgreifen, reinstecken und durchimpfen, Schublade zu.“ Seit Wochen hatte ich mich mit Informationen vollgepumpt und kannte jeden Virologen mit Vor- und Familiennamen. Allmählich dröhnte mir der Kopf von diversen Studien, von Inzidenz- Zahlenkolonnen, Mortalität und den allgegenwärtigen Widersprüchlichkeiten. Ich habs wirklich nur gut gemeint, doch ich muss mich schrecklich besserwisserisch angehört haben, als ich dozierte: „Spritzen in den Muskel bringt bei Atemwegserkrankung nicht viel bis gar nichts. Sieht man ja bei der Grippeschutzimpfung.“ Ich fühlte mich, als hätte ich ein Ass aus dem Ärmel gezogen. Kein Wunder, dass Manon schnippisch konterte: „Besser, wenig Schutz als tot.“ „Apropos tot, das neue Zeugs ist sowieso nicht ausreichend getestet, die Klinischen Studien dauern normalerweise Jahre. Hat man zum Wohle der Risikogruppen fix mal übersprungen.“ Dabei trommelte ich mit den Fingern auf die Tischplatte. „Seit wann gehörst du denn zu den naiven Wissenschaftsfeinden?“, fragte sie gelassen, zupfte an ihrem Seidentuch herum und stand langsam auf. „Nimms mir nicht übel, aber das ist ja nicht mehr auszuhalten.“ Sie wirkte unsicher, doch dann straffte sie ihren Rücken und zischte: „Und denk ja nicht, dass ich dich auf der Intensiv besuche, wenn es dich erwischt hat. Falls du überhaupt ein Bett bekommst.“ Manchmal konnte sie wirklich ein Biest sein. Klare Worte, allemal besser als Heuchelei. Sie hatte ein Recht auf ihre Meinung, genau wie ich auch. So zerschellte unsere jahrzehntelange Freundschaft an der Frage: Impfschutz oder nicht. Wobei ich immer noch denke, eine Freundschaft sollte unterschiedliche Auffassungen, egal zu welchem Betreff, aushalten können.
Die Füße fest auf dem Boden konzentriere ich mich auf die Basstrommeln, die direkt aus der afrikanischen Savanne zu kommen scheinen. Ich stampfe im Takt, erspüre die nackte, heiße Erde, verschmelze mit ihr. Für eine schwungvolle Drehung gibt sie mich frei. Tiefe Männerstimmen, eindringlicher Gesang, der Rhythmus der Trommeln und ihre Kraft übertragen sich auf mich, gehen unter die Haut, breiten sich wellenförmig aus, bringen jede Zelle zum Schwingen, Vibrieren und Jubilieren. Mit einem Mal weiß ich, dass ich Manon anrufen werde. Ich wünsche mir, dass wir wieder miteinander reden, uns Argumente an den Kopf werfen und versöhnen können. Und ich stelle mir vor, wir fallen uns um den Hals. Schwerelosigkeit hebt mich empor. Mein Körper genießt die Magie des Augenblicks. Ich bin reine Energie, pures Glück. Heil. Ganz. Ganz in der Gemeinschaft.

 

Christine Roth
Ist in einem deutschen Mittelgebirge geboren und aufgewachsen. Nach Jahren der Selbstständigkeit hat sie den Bergen den Rücken zugekehrt und ist der Liebe wegen ins Platte Land – in die Nähe von Maastricht – gezogen. Hier tut sie alles, was Spaß macht: Texte übersetzen und vor allem Kurzgeschichten schreiben. Einige davon wurden in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht.