Heil-Froh / Etcetera 88 / Prosa / Friedrich Hahn: Angebliches, Abseitiges und...

Einsichten eines Außenseiters.
Friedrich Hahn zu seinem 70er.

Montag? Dienstag? Mir kommen die Tage durcheinander. Selbst das Jahr tut so, als würde es Januar, Feber, März, April, Mai, Juni, Juli, August, September, Oktober, November, Dezember nicht kennen. Mir wird das Hintersichbringen zur Hauptbeschäftigung. Dann aber am Ende des Tages die Rechnung, das Minus: Wieder ein Tag weniger vom Restleben. Das Dilemma der alten Tage.

Ich muss unbedingt abnehmen. Gestern habe ich einen Film gesehen, wo Petrus die Neuankömmlinge vor der Himmelstür empfing. Was mir gleich auffiel: die Himmelstür schmal, ein enger Schlupf. Und sofort meine Angst: Junge, da kommst du mit deiner Wampe nie durch. Du musst unbedingt abnehmen, willst du da rein. Auf dem Bildschirm meines Laptops viel gähnende Leere, bis ein zweiter Bildschirm am Bildschirm meines Laptops auftaucht. Es ist wie beim Friseur. Spiegelungen ohne Ende. Das ist das Problem mit der Spontanität: Man kann sie nicht planen. Moment. Mein Handy klingelt. Es ist Grete. Sie ist 1x genesen und 3x geimpft. Nun ist sie wieder in Quarantäne, weil zum 2.Mal positiv.

Es klopft an meiner Tür. Ein Mann meldet sich über die Gegensprechanlage. Er sagt, er sei Robinson. Hält er mich für eine Insel? Ich weise ihn ab, brumme „ich will meine Ruhe“ und lege auf. Ich habe zu lesen. Zurzeit lese ich parallel, abwechselnd. Da eine Geschichte aus „Das Schöne, Schäbige, Schwankende” von Brigitte Kronauer. Da einen Mikroroman aus Adelheid Duvanels „Fern von hier”. Größer könnte der Kontrast nicht sein. So unterschiedlich die Prosa ist - das Knappe der Duvanel, das Ausufernde der Kronauer - so sehr sind sie sich ähnlich. Sie geben die Sprache nicht zugunsten des Inhalts auf, kosten Facetten und Finessen aus. Instrumentalisieren die Sprache nicht zum bloßen Vehikel, allein um Inhalte zu transportieren.

Die Sprache hat das Sagen. Ich öffne das Fenster, mir ist nach frischer Luft. Ich mache mich ans Verrichten. Eine Idee. Eine Idee, die ich schon lange hege. Ein Treffen der Helden meiner früheren Romane in einem Haus für betreutes Wohnen. Ich nenne es Haus Uferstraße. Die Andeutungen von Geschichten. Ich komme mir in die Quere. Absichten sind nicht absehbar. Aber man kann nicht nicht autobiografisch schreiben. In jeder Figur steckt ein wenig von dem, der sie erfunden hat. Zehn Prozent da, acht hier, zwölf in dieser Figur, drei in einer anderen. Ich bin ein Puzzle. Und was ist mit den Geschichten, mit den Senioren und Seniorinnen im Haus Uferstraße? Einer sagt: Es trifft immer die Falschen. Ein falscher Satz für alle, die sich für die Richtigen halten. Der Verlag will ein aktuelles Foto von mir. Ich weiß, ich brauche dazu einen Apparat und Licht. Das Licht lasse ich weg, warte, bis es Nacht wird. Das schwarze Bild schicke ich der Lektorin.

Manches vergesse ich. Das beunruhigt mich. Namen entfallen mir. Besonders ärgerlich ist es, wenn ich den Namen weiß, mir aber der Vorname nicht und nicht einfällt. Dann wird der Thiem schon mal zum Jürgen Thiem, der Nehammer zum Werner Nehammer. Wenn ich nicht gerade im Bett liege, ist sofortiges Googeln angesagt. Ich kann das nicht auf mir sitzen lassen. Mein breites Grinsen, wenn aus dem Thiem wieder ein Dominik, aus dem Nehammer wieder ein Karl geworden ist. Ich habe schon den Wert eines gebrauchten Kleinwagens in meine Zähne investiert. Ich will das hier nicht weiter erörtern. Nur so viel. Es hat mir einen Job eingebracht. Da ich von der Wurzelbehandlung bis zur Extraktion und Anpassung von Brücken schon so ziemlich alles mitgemacht habe, bat mich mein Zahnarzt, ich solle doch so einen Katalog meiner Empfindungen schreiben. So könne er seinen Patienten und Patientinnen einfach das entsprechende Merkblatt aushändigen und könne sich lange Reden ersparen. Ich habe jetzt etwas gut bei meinem Zahnarzt. Die nächste Brücke bekomme ich gratis. Das beruhigt. Ich sitze bequem. Ob mein Hintern weiß, dass ich mich freue?

Meine Geschichte von den alternden Helden im Heim verlaufen sich im Sand. Den Spaß vergönn ich mir. Sonst läuft ja immer alles auf ein schlüssiges Ende hinaus. Im Fall meiner Heim-Geschichte treten Leute auf, die mit der eigentlichen Geschichte nur noch peripher bis nichts mehr zu tun haben. Nebennebenfiguren sozusagen. Zuletzt ist es eine Putzhilfe, die zu Wort kommt. Elena, eine Unwissende, eine Uninteressierte, die nicht einmal ihre eigene Geschichte interessiert.

Frühling ist die Zeit der Ehrungen. Ich verfolge natürlich, wer welchen Preis verliehen bekommt. Der Ast sieht aus wie ein Ast. Als Preisloser denkt man natürlich, dass es die höchste Auszeichnung ist, noch keine einzige Würdigung erfahren zu haben. Achten und ächten unterscheiden sich bloß durch zwei kleine Punkte über dem A.

Meine Mutter schaut von der Wand. Auf dem Foto ist sie 19. Mir ist, als wunderte sie sich. Ich bin jetzt Extremautor. Seit einem halben Jahr habe ich die Baustelle im Haus. Der Dachboden wird ausgebaut. Ich brauche nicht nur Papier und Stift zum Schreiben, ich brauche vor allem Ruhe. Gestern wurden die Winterspiele in Peking eröffnet. Der Stapel von Zeitungsausrissen wird immer höher. Vor 100 Jahren erschien der Ulysses in Paris. Ich brauche Inspiration, überfliege Artikel und Bücher.

Immer wieder/schräge Töne/süß und plump/ Ruhe jetzt!/ verschont mich!/immer wieder aufgeräumt/ unter Dach und Fach/Schluss mit bunt/und dem schönen Irrsinn/ mit einem Satz: Hallo,Welt!/ im Museum durch Wald und Feld/mit gutem Gewissen keinen Schritt weiter/ im Übergang die freudige Begrüßung/ mit meinem jüngeren Ich/ Schönheit und Schmerz im freien Fall/ komm/wir ziehen das durch/ alles nur eine Kopfsache/ dann ist die dunkle Seite mit einem mal die richtige/im Gewimmel die reine Leere/viel mehr Welt geht nicht/ordnest das Unausweichliche/Vorhang zu/das Spiel kann beginnen/in den vielen Gesichtern/eine Welt für sich/ eine Welt ohne mich/sollen Sie doch/ sollen sie brüllen/ toben mit der Kotze einer Stimme im Ohr/Bilder haben das Sagen/in einer neuen Beziehung/zählt jedes Wort/ gut getarnt/immer wieder/meine besondere Nähe zu mir/immer wieder/die bösen Banalitäten/und notfalls nervös/immer wieder nervös zur Not.

Letzte Woche brachten mich zwei Ereignisse aus der Balance. Einmal hat man mich beim Onanieren erwischt. Das behauptet jedenfalls ein Unbekannter in einem Mail. Er könne meine Kamera aktivieren, alles beobachten. Wenn ich nicht wolle, dass er das Video ins Netz stellt, solle ich ihm 1.500 Bitcoins überweisen. Er schickte sogar einen Link mit, wo beschrieben war, wie ich zu Bitcoins kommen würde. Dies die eine Aufregung. Dann die Mitteilung meines Steuerberaters. Ich fiele unter die 750 Euro-Grenze, somit sei dem Finanzamt die Beendigung meiner schriftstellerischen Tätigkeit anzuzeigen. Ich protestierte, aber mein Steuerberater erklärte mir, dass dies bloß eine Formalität sei, weil ich jetzt einkommenssteuerbefreit wäre. In der Nacht darauf schlief ich schlecht, träumte wirres Zeugs. So stellte mir meine Fußmatte zwei weitere, zwei kleinere und auch welche ohne der Aufschrift WILLKOMMEN, auf die meine Fußmatte so stolz zu sein scheint, als ihre Freundinnen vor. Und sagte, dass ich jetzt nicht enttäuscht sein müsse, dass ich jetzt keinen Wunsch mehr frei hätte. Ich hörte Applaus. Er kam vom Fernseher. Er war wohl die ganze Nacht lang gelaufen. Jetzt war ich wach. Und schaltete ihn aus. Man kann von Glück sagen, wenn sie schon da ist, die Welt, wenn man aufwacht. Ich könnte schreien. Niemand würde mich hören.

Ich schau mich um. Ich bin heil froh. Alles da. Ich sehe Ausschnitte, sehe Objekte und Gehortetes. Mir war das Komplette immer wichtig, so dass nichts fehlte. Man kommt nicht als Romanfigur auf die Welt. Und schon gar nicht als Briefmarkensammler. Überall Lurch. Ich warte ab. Pling: eine private Nachricht kündigt sich an. Ein Freund schickt mit ein Karl-Kraus-Zitat: „Das Leben ist eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre.” Ich werde es in meinem Zitatenordner abspeichern. Später. Im Moment habe ich anderes zu tun.

 

Friedrich Hahn
Geb.1952 in Merkengersch/NÖ, veröffentlicht seit 1969, Mitglied der Gruppe NEUE TEXTE, Redakteur des PULT, des PODIUM und des Limes. 20 Jahre Redaktionsmitglied der Textvorstellungen/Alte Schmiede. 1987 Teilnahme am Bachmannpreis-Wettlesen, 50 Bücher, 18 Hörspiele, mehrere Arbeiten für die Bühne, Ausstellungen (u.a. im Museum moderner Kunst), Performances (u.a. im Centre George Pompidou/Paris), Workshops (u.a. an der Akademie Geras) und Veranstalter (u.a. Ausrichtung der dichteRmeile),
2019 Ankauf des Vorlasses durch das NÖ Literaturarchiv.
www.literaturhahn.at