Stein / Etcetera 89 / Prosa / Friedrich Hahn: Hallo Welt, wir hätten da mal eine Frage…

(Auszug aus einem neuen Romanprojekt mit dem Arbeitstitel Leergut)

Der Morgen bringt eine Wolke. Im Nebel erlöschen nacheinander erst Bäume, dann ganze Häuser. Die ganze Stadt macht heute einen komplett welken Eindruck. Störungen treten auf. Mit Behinderungen ist zu rechnen, sagen sie im Radio. Wir erwarten Durchsagen, Dialoge. Wir? Wer ist dieses WIR? Ärzte sagen so, wenn sie Vertrauen herstellen wollen. Oder nicht weiterwissen. Wie geht es uns denn heute? Wir sollten das operieren. Wir sind doch erst 70.
In Ermangelung eines Traums sagt jemand entschieden nein! Es kommt von ganz hinten. Alle wenden sich um. Es ist ein Nachbar, der sich zum NEIN bekennt. In solchen Fällen und im Zweifelsfall sind es immer die Nachbarn.
Das Beste kommt immer zum Schluss, sagt jetzt der Nebenmann des Nachbarn. Nur, dass das noch nicht der Schluss ist, entgegnet der Nachbar aus der hintersten Reihe. Jetzt funktioniert das plötzlich auch mit Rede und Gegenrede und der Nebenmann sagt: Wenn es einmal besonders langweilig wird, kann man sein Leben, Teile davon, gegen jede Chronologie und Logik immer noch neu zusammensetzen. Wir sollten das stets mitdenken.
Das Baby. Das Baby stammt aus der Retorte. Noch ehe die Laborantin mit dem Laboranten Sex hatte. Ihr Scheitern als Elternpaar eine Übung, wie alles Scheitern. Erkennbar an ihren durch ihr Dauergrinsen entstellten Gesichtszügen.
Alles gut, die Leier. Wir würden nicht tauschen wollen.
Frischer Wind. Endlich. Höchste Zeit auch, wenn schon alle fragen, wieviel Plan es im Leben braucht. Ja, ein Plan wäre gut, sagt sie, die Frau. Aber Vorsicht beim Wünschen, sagt er, der Mann. Sie: Ein besseres Leben, vielleicht. Er: Ach, wie praktisch, wenn die Superheldin in dir übernimmt. Vieles bleibt uneindeutig. So weit, so gut. Alles eine Frage der Übung. Und alle zahlen am Ende drauf, wenn die Worte fehlen. Das Denken in Gegensätzen. Nur so als Gedankenexperiment. Ja, Gegensätze sind perfekt, will man seine Ideen für die Ewigkeit testen.
Was ist von Zimmerpflanzen zu halten, die nicht mich meinen? Abgesehen davon, dass sie zu nichts zu gebrauchen sind. Sie sind doch unnütz, oder? Aus der Küche kommt ein krächzendes „Oaschloch”. Der Kaktus im Käfig imitiert einen Papagei, der gerade einen Einbrecher verjagt hat.
Was der Dieb nicht wusste, das Geld steckt in Stiefeln, welche sich die Mieterin extra und anstatt eines Girokontos angeschafft hat, nachdem ihr das Online-Banking zu kompliziert geworden war. Wer soll sich denn da noch auskennen?! Jetzt wollen sie auch noch das Bargeld abschaffen!
Die Frau mit den Geldstiefeln gibt mit jedem Trinkgeld zugleich Fersengeld. Sie war über 30 Jahre mit einem Komödianten verheiratet. Sie ist als Ehefrau quasi eingesprungen. Sie half damals in einem kleinen Theater als Billeteurin aus. Die Hauptdarstellerin war plötzlich erkrankt.
Sie sollte die Braut in dem Stück sein und den Komödianten auf offener Bühne im zweiten Akt heiraten. Spontan übernahm die Frau mit den Geldstiefeln, die zu der Zeit noch ein richtiges Girokonto hatte, ihre Rolle. Es wurde ein großer Erfolg. Wie gesagt, die Ehe hielt über 30 Jahre. Ihr Mann, der Komödiant, verstarb erst letztes Jahr. Seitdem lebt die Frau mit den Geldstiefeln in Erinnerungen und einer viel zu großen Wohnung. Die Sachen des Komödianten hat sie in Bananenschachteln weggepackt.
Die Schachteln stehen im Vorzimmer und versperren den Durchgang ins Wohnzimmer, das jetzt unbewohnt ist.
Die Grünpflanzen darin sind jetzt längst braun und unansehnlich.
Seitdem die Geldstiefelfrau Witwe ist, ist sie nur noch mit sich selbst beschäftigt und unter ihrer Schädeldecke ist es für immer Nacht. Und sie friert Jahr und Tag.
Ihr sehnlichster Wunsch ist ein Heizkörper zum Anziehen.

Friedrich Hahn
70 Jahre, 50 Bücher, 20 Arbeiten für Hörfunk und Bühne, Teilnahme am Bachmannpreis (1987), NÖ Anerkennungspreis (2001), Ausstellungen, Performances, langjährige Tätigkeit als Redakteur von Zeitschriften (neue texte, PULT, LIMES, PODIUM, sowie für die Textvorstellungen der Alten Schmiede), Dozent für kreatives Schreiben, Veranstalter der dichte®meile und der Wiener WandspielWochen.
www.literaturhahn.at