Stein / Etcetera 89 / Prosa / Roland Grohs: Der Sammler

Der Anfang war schwer. Da wollte keiner was von ihm wissen. Er musste von Haus zu Haus ziehen, von Tür zu Tür. Meist öffnete sie sich einen Spalt, er zeigte, was er zu bieten hatte und die Tür fiel ins Schloss. Manchmal ging sie gar nicht erst auf. Er besaß wenig Dinge, nur seine Hoffnungsperlen, deren Formel er in langen Studien entschlüsselt hatte. Die Hoffnungsperlen steckten in seinem Hoffnungsbeutel und der Hoffnungsbeutel hing an seinem Gürtel, bereit, gezückt und offeriert zu werden. Aber die Leute hatten wenig Vertrauen in die Hoffnung, noch weniger in seine Hoffnungsperlen und hofften allenfalls auf ihr Glück. Es dauerte eine Zeit, wie es manchmal so ist, und es fand sich ein hoher Herr, der mit anderen hohen Herren und hohen Damen parlierte, die schließlich zu dem Schluss kamen, es lohne sich, in die Hoffnung zu investieren.
Da waren ihnen die Hoffnungsperlen gerade recht.
Und er, der sich allmählich einen Namen machte, – weshalb wir ihn Richard nennen – verkaufte Perle für Perle, bis sich sein Hoffnungsbeutel leerte, dann der nächste und der nächste, die

Hoffnung immer weniger wurde und er den Blick auf die schönen Dinge richtete, die ihm so lange versagt geblieben waren.
Hoffnung war gefragt und Richard war gefragt. Bald besaß er all die Dinge, die er sich früher nicht leisten konnte: einen neuen Rasenmäher für seinen Garten, sogar einen Trimmer für die fransigen Stellen um die Büsche und vor dem Zaun. Eine Zuckerwattemaschine und eine Popcornmaschine und ein Elektrorad und eine Schnapsbrennanlage aus Kupfer für die Herstellung etherischer Öle (glaubten die vom Zoll). Es zeigte sich, dass Richard nicht gern klebrige Apparaturen putzte, mit dem Rad fuhr, Schnäpse brannte oder duftende Öle herstellte. Und da der Verkauf seiner Hoffnungsperlen viel Zeit in Anspruch nahm und ihm wenig Freude bereitete, war er unzufrieden. Und seine Unzufriedenheit und Langeweile und Hoffnungslosigkeit machten seine Frau traurig. Und weil seine Frau traurig war, machte Richard zu unleidlicher Gesellschaft.
Einmal kam seiner Gattin ein Einfall. Sie wünschte sich einen rotmützigen Gartenzwerg für ihren Garten, weil so ein rotmütziger Gartenzwerg in einem Garten bestimmt gut aussehe und sie womöglich von ihrem Kummer kuriere.

Richard bekam einen roten Kopf und brummte mit mahlendem Kiefer: „Eine ganz tolle Idee. Kostet ja schließlich nichts. Was wäre schon wichtiger als ein Gartenzwerg?”

So kam es, dass die Frau noch trauriger wurde, immer öfter aus dem Fenster sah, ohne das Haus zu verlassen, hinaussah auf den gartenzwerglosen Garten, wo das Gras wucherte und die Büsche und Sträucher sich in alle Richtungen ausstreckten, da niemand die rechte Lust verspürte, sie zu zähmen. Die Frau stand vor dem Fenster, tagein, tagaus, ohne es zu öffnen, da die Vogelrufe, das muntere Rascheln des Windes und all die Sommerstimmen sie in tiefe Melancholie versetzten. Die Frau wurde krank.
Richard echauffierte sich weiter über dieses und jenes.
Einmal waren die Tiefkühlsemmeln zu lange im Backrohr: „Die sind wie Zwieback! „Einmal waren die Tiefkühlsemmeln zu kurz im Backrohr:” Die sind innen gefroren! „Einmal waren die Tiefkühlsemmeln keine Tiefkühlsemmeln, sondern frisches Vollkornbrot: „Das schmeckt wie Sägespäne!” Er starrte auf den Kassenzettel: „Aber kostet ja schließlich nichts!”

Die Kinder zogen sich zurück, waren schon fast verschwunden unter dem Ballast und Richard beschaffte sich immer mehr Dinge: einen Trimmer für seinen Bart, einen für die Nase und einen für die Ohren, ein Aquarium mit bunten Fischen, aber weil er keine Lust hatte, sie zu füttern, schwammen sie bald mit dem Bauch nach oben und wurden von den Süßwasserkrabben verspeist. Außerdem Rollschuhe, ein Schlauchboot, ein Set für die Herstellung von Wachskerzen, eine Softeismaschine, ein Massagekissen, einen Holzspalter und eine Playstation 5, auf die er zwei Spiele installierte, ehe er sie unter dem Fernsehtisch verstauben ließ. Tausend kleine und große Dinge lugten aus den Nischen, stapelten sich an den Wänden und eroberten bald ganze Räume. Und die Kinder gingen verloren.

Eines Tages – draußen zogen bereits die langen Winternächte herauf – war die Frau am Stuhl vor dem Küchentisch zu Eis erstarrt und konnte sich weder bewegen noch klar denken oder irgendetwas sonst. Richard kümmerte sich um die Kinder, die auch schon abkühlten. Er weckte sie morgens, bereitete ihnen das Frühstück, brachte sie zur Schule. Anschließend zog er selbst fort in die Winderkälte, die ewige Nacht, und verkaufte Hoffnungsbeutel für Hoffnungsbeutel voll Hoffnungsperlen. In den freien Minuten zwischen dem Zu-Bett-Gehen und dem Wecken der Kinder raffte er noch mehr Dinge, bis sie das Haus zum Bersten füllten und er sie im Garten lagern musste: einen Billardtisch ohne Löcher, auf dem keiner so recht zu spielen wusste, einen Billardtisch mit Löchern, auf dem keiner spielen wollte, eine Gitarre, Pfeil und Bogen, einen Holzofen für die Kettensäge, für den Holzspalter, für die ungezähmten Bäume im Garten, die blattlos verharrten wie knochige Riesen. Er rollte ein paar Kerzen mit seinem Kerzenset und stellte sie um den Stuhl seiner Frau; die brannten Tag und Nacht, dufteten nach Bienenwachs und konnten sie doch nicht erwärmen.

„Wo ist mein Toaster?”, fragte Richard an einem schneeweißen Samstagnachmittag. „Den, der immer den Kurzschluss verursacht, mein ich. Ihr werdet ihn ja wohl nicht weggeworfen haben. Den wollte ich reparieren!” Er drehte sich im Kreis, schob hier und da einen Gegenstand zur Seite – eine Paella-Pfanne, einen Plattenspieler, dutzende ungeöffnete Kisten – und stellte fest, dass ihm niemand zuhörte. Von da an wurde Richard stumm. Er verkaufte Tag für Tag seine Hoffnungsperlen, so lange, bis er keine mehr hatte, kam spät nach Hause, setzte sich auf das Sofa, allein, weil seine Frau eingefroren war und sich die Kinder in ihren Zimmern verschanzten. Nach kurzer Rast stellte er der Tochter und dem Sohn das Abendessen ins Rohr, für den Fall, dass sie noch Hunger bekämen, und wechselte die Kerzen für seine Frau. Dann fischte er die Krabben aus dem trüben Aquariumswasser, schaltete den Fernseher an, nur eine Weile, und legte sich schlafen.

Eines Sonntagmorgens hatte Richard keine Lust mehr, seine Hoffnungsperlen zu verkaufen. Er versteckte sich hinter seinen Wänden, den Türmen aus Nützlichem und Nutzlosem in jedem Fall Ungenutztem und wartete darauf, dass etwas passierte. An diesem Tag kehrte seine Stimme zurück. Er begriff, dass ihn die Warterei nicht weiterbringen würde. Richard summte vor sich hin, während er durch das Haus wanderte, schob die Dinge beiseite und verbannte sie in die hintersten Winkel des Dachbodens, das meiste stellte er in den Garten unter die Bäume, an denen die ersten Triebe sprossen. Er versuchte, seine Frau aufzutauen, insistierte, flehte, rollte immer dickere Kerzen, gewaltig wie Fackeln, entzündete sie vor ihrem Stuhl und redete ihr gut zu. Doch einen so eisigen Klumpen aufzutauen war nicht einfach. Im Schein der Sonne und der flackernden Kerzen begann er Zwiebeln und Karotten zu schneiden. Mittags klopfte Richard an die Türen der Kinder und bat sie, sich zu ihm zu setzen, zum gemeinsamen Sonntagsessen. Er war kein begabter Koch, doch hatte sich Mühe gegeben und sein Braten schien gelungen.
Er hatte Servietten neben die Teller gelegt und Limonade auf den Tisch gestellt, sogar eine Vase mit Palmkätzchenzweigen. „Riecht komisch”, kommentierte der Sohn. „Dauert das lange?”, fragte die Tochter. „Ich hab keinen Hunger”, setzte der Sohn nach. Richard nahm das große Messer und die Fleischgabel. Das Stück war hart und zäh, er drückte fest zu und immer fester, bis das Messer abglitt und er – unter einem spitzen Schrei – seinen Zeigefinger zur Hälfte durchtrennte. Die Kinder schauten erstaunt, dann begannen sie zu lachen, verließen den Raum und stiegen über die Treppe nach oben zu ihren Zimmern. Richard saß eine Weile da, ohne den Braten anzurühren, den blutigen Finger in seine Serviette gehüllt. Er rückte zu seiner Frau, die immer noch kalt war, ein frostiger Klumpen. Die Kinder, dachte er, die armen Kinder! Richard sprang auf, packte die selbstgerollten Wachskerzen und stellte sie vor die Türen der Tochter und des Sohns. Dann kehrte er zurück zu seiner Frau. Am Montagmorgen war auch er zu Eis erstarrt.

 

Roland Grohs
1993 in der Obersteiermark geboren, arbeitet in Graz an seiner Dissertation in Philosophie. 2021 erschienen sein Schelmenroman »Joe baut ein Meer«, Edition Meerauge, Klagenfurt und seine Dystopie »Golem« SadWolf, Bremen. Er ist mehrfacher Judo-Landesmeister und Träger des 3. Dan. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, 2021 Buchveröffentlichung Golem, SadWolf Verlag, Bremen. Luka und die Guten, Edition Meerauge, Klagenfurt (forthcoming) 2023.
roland.grohs@edu.uni-graz.at