Turm / Etcetera 87 / Prosa / Gudrun Breyer: Tower Power

Der Klangturm hat diese sonderbare Wirkung auf mich: Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe seine Fassaden hoch in das Wohnzimmer der Großeltern. Ich sitze inmitten bunter Holzklötze und baue zuerst den Klangturm nach, dann – mit einem zusätzlichen Baustein - den St. Pöltner Dom. Welches der beiden Bauwerke das höchste der Stadt ist, ist eine Frage der Definition. Natürlich kann es nur der Dom sein, der als markante Spitze am Horizont wichtigster Bezugs- und Orientierungspunkt ist. Zwar sind da auch noch Schlote, unbedeutendere Kirchen und Möchtegern-Hochhäuser, aber nur die Silhouette des Doms vermittelt dieses einzigartige Gefühl von Sicherheit und Heimat. Der Klangturm mit seiner raffinierten Beleuchtung hingegen fristet ein beschauliches Dasein. Sein Schicksal gleicht dem anderer Türme: Nach einem fulminanten Auftritt verblassen sie im kollektiven Bewusstsein. Wer sich in einen negierten Turm versetzt, versteht, was es mit dem „Türmen“ auf sich hat: die Sehnsucht danach, das Weite zu suchen. Dieses Gefühl muss den Schiefen Turm von Pisa täglich überkommen. Seit Ewigkeiten bemüht er sich um ein Gleichgewicht und erlangt es doch nie. Das Türmen ist zudem eng mit dem Vergessen verbunden. Vergessene Türme und Türme, die erklimmt werden, um zu vergessen oder zumindest eine neue Perspektive zu erlangen. Im Wohnzimmer der Großeltern denke ich nicht daran, Türme zu vergessen. Ich baue sie nach. Alle, die mir Großvater in seinen Bildbänden zeigt und von denen ich in der Zeitung lese. Von Babel ist die Rede und davon, dass Europa zusammen-wächst und sich alle verstehen. Ein bisschen kommt mir dieses Europa wie die Sagrada Família vor, an der gebaut und gleichzeitig bereits renoviert wird. „Wie ein Turm musst du werden, Tobi! Immer in die Höhe streben“, sagt der Großvater.
Ich werde in einer Zeit des Turmbaus groß. Zuerst sind es die USA, die ein Rekordbauwerk nach dem nächsten errichten, dann China. „Als bräuchte ein großes Volk besonders viel Aussicht“, sagt der Großvater. Ich baue den Willis Tower, als ich in die Schule komme, das Empire State Building, als ich meinen ersten Milchzahl verlieren, den Eiffelturm mit seinen Rundbögen zu meinem zehnten Geburtstag. „Du brauchst dich nicht verbiegen, Tobi“, sagt der Großvater, „aber hoch hinaus musst du.“ Ich prüfe die Tragfähigkeit der zweiten Etage, nehme die Verjüngung des Turms in Angriff, aber ein Quader kippt, weitere folgen und der Turm bricht in sich zusammen. „Weiter“, sagt der Großvater. „Denk an die Macht der Türme.“ Ich baue das World Trade Center nach dem Tod meines Meerschweins. Großvater reicht mir Steine. WTC 1 ist ein buntes, instabiles Flickwerk mit Lücken, wo die verschieden großen Klötze nicht in einer Ebene abschließen. Beim zweiten Turm geht uns das Material aus. Großvater zerlegt den Turm, geht in das Kabinett und kehrt mit vier gleichen Kartons zurück. Er legt sie als Fundamente aus und so wächst WTC 2 auf Schiesser Herrenunterwäsche-Kartons in die Höhe.
Ich baue den CN Tower, nachdem ich mein erstes Mädchen geküsst habe. Großvater und ich halten uns lange mit der Wahl eines passenden Turmkorbs auf. Den Zugriff auf Trink-, Kompott- und Marmeladengläser verweigert uns die Großmutter. Auch den Zahnputzbecher bekommen wir nicht, also hole ich eine leere Baked Beans Dose aus dem Metallmülleimer und füge als Antenne einen Bleistift hinzu. Ich baue die Patronas Towers, als ich ins Gymnasium wechsle, Taipei 101 nach der Matura. Nach Beendigung meines Zivildiensts führt mich mein erster Weg in Großmutters Speisekammer. Mit leeren Dosen, Topfenpackungen, Joghurt- und Rahmbechern betrete ich das Wohnzimmer und mache mich daran, Burj Khalifa zu errichten. „Der höchste Turm der Welt“, sagt der Großvater und betrachtet die dafür verwendeten Leergebinde.“ Als ich Großvater zu seinem achtzigsten Geburtstag besuche, klatscht er auf die aufgeschlagene Zeitung. „Tausend Meter sollte der Jeddah Tower werden und jetzt haben diese Hasardeure bei einem Viertel aufgehört!“ „Zeitgeist“, sage ich. „Unsinn“, sagt der Großvater. „Alles wird mehr: der Butter-, der Müll-, der Schuldenberg!“„Dann bauen eben wir den Turm fertig“, sage ich und mache kehrt, um in die Speisekammer zu gehen. „Lass nur, Tobi“, sagt der Großvater und greift nach meine Hand.
Der Wind weht mir eine Energydrink-Dose vor die Füße. Ich werfe sie in den nächsten Mülleimer. Auf dem Weg nach Hause, vorbei am Klangturm, die Traisen entlang, errichte ich mit den weggeworfenen Gebinden, die ich passiere, in Gedanken einen Turm. Hoch ist er und mächtig.

Gudrun Breyer
Geb. 1975, lebt in St. Pölten und arbeitet als Erwachsenenbildnerin in einer Kompetenzanerkennungsstelle in Wien. Schreibpädagogin. Etliche Lesungen und Veröffentlichungen. Beiträge in Anthologien.