Ulrike Bail: wie viele faden tief

Cornelia Stahl

Ulrike Bail:
wie viele faden tief

Gedichte
St.Ingbert: Conte-Verlag
2020, 69 Seiten
ISBN: 978-395-602216-6

Nähen und Dichtkunst. Gehören Nähen und Dichten zusammen oder widersprechen sie einander? Dass Nähen und Dichtkunst unmittelbare Nähe aufweisen, beweist die versierte Lyrikerin Ulrike Bail im vorliegenden Gedichtband.
Gegliedert ist er in sechs Kapitel, mit Überschriften wie: verloren die morgen von den tagen/ unvertäut verflogt/ rücklings den faden entlang/ abgetragener kleider vergessen/ fließt den stichschmerz entlang/ auf schmugglerpfaden hoch im gebirg.
Die Idiomatik und das Vokabular des Nähens und Dichtens greifen wechselseitig ineinander, wie das Gedicht Kettfaden zeigt: ich spanne den faden über die kante/ des frühjahrs hinaus bei den federn (S. 22) Von Schnittmustern lesen wir: auf Seidenpapier gezeichnet, die umbruchlinien der schwalben/handschwingen im aufwind/ gepunktet durchgezogen ein strich. (S. 23). Eine Suche nach Personen, die sich hinter den Kleidungsstücken verbergen, schält das Gedicht „Bindestrich“ exzellent heraus: in der antikensammlung geheftet an faltentwürfe/ nackte körper  blindstich stein mit subkutanen und erinnert an die Ausstellung „Häutungen“ - Schnittmusterbögen- Archiv“, des Künstlers David Wittinghofer.
Während der lyrischen Arbeit fertigte die Künstlerin Collagen zu den Texten an, welche im Anhang des Buches zu sehen sind und eigene Assoziationen evozieren. Geschickt verknüpft Bail die Texte untereinander: Wörter fransen aus, andere nehmen Bezug auf den Folgetext.
Die kurzen, metaphorisch aufgeladenen Miniaturen markieren den Zusammenhang zwischen Nähen und Dichtkunst, spinnen Fäden und bringen Sticheleien ins Spiel, die uns aufrütteln und zu wachsamen Leser*innen werden lassen. Geheimtipp und Genuss zugleich!

Ulrike Bail, geboren in Metzingen, lebt in Luxemburg. Letzte Veröffentlichungen: Sterbezettel. Gedichte, edition offenes feld, 2016. Die Empfindlichkeit der Libelle, 2017.

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