Buch

Barbara Neuwirth: Eurydike überlebt

Tatjana Eichinger

Barbara Neuwirth:
Eurydike überlebt

Hörspiel, Edition NÖ 2021
Bilder Jutta Müller
116 Seiten
ISBN 978-3-902717-59-7

„Angst ist ein sinnloser Umgang mit Situationen“ (S. 50). Barbara Neuwirths Rieke (Eurydike) hat sich aus dem Mythos emanzipiert, sie ist im Heute angekommen und verhandelt ihr Schicksal neu.
Die Geschichte spielt in der Gegenwart, auf einem Containerschiff. Die Thematiken der Figuren sind aktuell. In dichten, einfühlsamen Dialogen erzählt die Autorin von Liebe und Abhängigkeit, von Femizid und Befreiung, von Ausweglosigkeit und Entwicklung. Das alte Rollenverständnis zwischen Mann und Frau wird überdacht. Die eine (Kore) hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden, unterwirft sich der Macht und den Regeln ihres Mannes. „Ich brauche keine Freundin“ (S. 40), entgegnet sie der anderen (Rieke), die Frauensolidarität fordert. Rieke hingegen gelingt es aus dieser Tradition auszubrechen. Sie vertritt ihre Interessen mit der Macht ihrer Sprache. In einer Männerwelt begegnet sie ihnen auf Augenhöhe. „Meine Stärke war auf den Mann übergesprungen. Er war stark genug zu akzeptieren, dass ich gehen muss.“ (S. 47)
Doch Barbara Neuwirths Text polarisiert nicht. Es ist leicht sich in die Gedankenwelt ihrer ProtagonistInnen hineinzuversetzen Die Dialoge der Hörspielfassung lassen genügend Raum für eigene Interpretationen. Und das ganz im Sinne der Autorin, denn: „Film im Kopf… Das ist die Welt, der ich vertraue“ (S. 60) verrät die Autori in einem Gespräch mit Harald Friedel, das dem Text angeschlossen ist und auch ihren persönlichen Zugang zum Orpheusmythos wiedergibt.
Barbara Neuwirth lebt in Wien und Niederösterreich. Als Verlegerin im Wiener Frauenverlag/Milena Verlag und Herausgeberin der Buchreihe Frauenforschung (1995- 2007) war sie eine der aktiven Vorreiterinnen in der feministischen Publikationswelt Österreichs. Zahlreiche Buchpublikationen, Preise und Auszeichnungen u.a. den Anton Wildgans - Preis (2005). Veröffentlichung zuletzt: Helden, Heldin, Superhelden. Haymon Verlag 2019.

Andreas Pavlic: Die Erinnerten

Cornelia Stahl

Andreas Pavlic:
Die Erinnerten

Roman
Wien: Edition Altelier.
221 Seiten
ISBN: 978-3-99065-058-5

Positionierung und Verteidigung politischer Ideale. Im Mandelbaum-Verlag veröffentlichte Andreas Pavlic 2019 mit anderen Autor*innen „Die Rätebewegung in Österreich“. Davor einen Lyrikband. Mit vorliegendem Roman geht er zurück in seine Heimat Tirol und siedelt dort seinen Roman an, in dessen Fokus das Ereignis der „Höttinger Saalschlacht“ von 1932 steht, eine Auseinandersetzung zwischen Nationalsozialisten und Mitgliedern des Republikanischen Schutzbundes und Kommunist*innen. Am Rande dieses Ereignisses laufen sich die beiden Protagonisten Annemarie und Johann in, die Arme und beginnen eine (Liebes)Beziehung.
Was fast vordergründig als banales Alltagsgeschehen daherkommt, liefert uns ein Soziogramm damaliger gesellschaftlicher Veränderungen. Die Auseinandersetzungen zwischen Christlichsozialen, Sozialisten und Nazis (die anfänglich noch verboten waren). Glaubwürdig erzählt Pavlic von den Ambivalenzen, politischen Überzeugungen und den Versuchungen, ins andere (politische) Lager überzulaufen.
Mit dem Einzug der Alliierten 1945 ändert sich alles. Das Ausloten seiner Protagonist*innen zwischen Anpassung und Widerstand, zwischen dem Wunsch nach Zugehörigkeit und Vermeidung von Ausgrenzungen schildert der Autor überzeugend.
Rückblickend erinnert sich der Sohn an das Leben seiner Eltern, das unmittelbar Spuren in seiner eigenen Biografie hinterlassen und ihn beeinflusst hat. Die Hintergrundfolie des Romans unterstreicht unsere Rolle als aktive und verantwortungsvolle Gestalter*innen unseres Lebens. Niemals sind wir passive Objekte äußerer Umstände! Wertvolle Literaturhinweise ermöglichen eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema.
Andreas Pavlic, 1974 in Innsbruck geboren, lebt in Wien als Spediteur, Lager- und Gemeinwesenarbeiter. Seit 2008 veröffentlicht er Lyrik und Prosa in Zeitschriften und Anthologien.

Renate Lehrberger

Eva Riebler

Renate Lehrberger: Ausgewählte Lyrik

Podium Porträt 117, HG Erika Kronabitter, Wien 2021, 64 Seiten

ISBN 978-3-902886-66-8

Die Musen sind´s, die Musen! Lehrberger hat in ihrem Gedichtzyklus viele interessante Ansätze, wie z.B.: „Schickt alle Engel fort … lasst nur die Musen hier, die sind aus Fleisch und Blut!“

Sie gibt nicht immer Ratschläge, sondern spricht von sich und der Grobkörnigkeit der Welt. Sie muss schreiben, NUR mehr zu schreiben ist ihre große Sehnsucht. Schreiben ist für sie das Natürlichste, so wie das Mondlicht durch die Zweige fällt, ob es nun will oder nicht.

Ist sie positiv gestimmt, schreibt sie nach ihrem ersten Gedichtband „Schwarze Gedichte -  Blaue Gedichte“, Verlag Grasl 1986; in „Verschränkungen“, Literaturedition NÖ 1993: „Laßt euch nichts vormachen: / Eine einzige Schwalbe / macht schon den Sommer.“

In diesem dritten Lyrikband zeigt Lehrberger auch einen düsteren Blick in ihren Natur-Miniaturen und in Bezug auf das Alter und den Tod. Wir sind zwar Zoogeschöpfe hinter Gitterstäben, stets in den Wiederholungszwang verstrickt, jedoch sind wir Löschblatt, vollgefüllt mit schwarzen Tönen und schwarzer Tinte – meint sie. Wir spielen in keinen Szenen mehr mit, lange schon nicht mehr – ist ihre Aussage. Jedoch hält sie viel vom Traum und vom Träumen.  S. 27 … „Doch die Träume, / die Träume? / hol sie dir zurück! /  Kein toter Traum / wird jemals verwirklicht! / wach auf und träume!“. Mit diesem paradoxen Aufruf endet sie keineswegs ihren Gedichtzyklus, sondern sie spricht vom Fühlen der Begrenztheit und doch dem Aufrichten durch das Betrachten des Naturkreislaufes, des steten Schmelzen des Schnees und des wieder Aufblühen des Flieders im Garten. Sie wechselt von Moll auf Dur und lässt als Abschluss ein in Rot getauchtes Bild gemeinsam mit dem Liebsten entstehen.

Ein wirklich äußerst spannender, abwechslungsreicher Band, der in die Tiefe geht und den Leser/die Leserin bereichert zurück lässt.

 

 

 

Simone Hirth: 365 Tassen Kaffee mit der Poesie

Eva Riebler

Simone Hirth:
365 Tassen Kaffee mit der Poesie

Prosaminiaturen
Ill. Renate Stockreiter,
St. Pölten Literaturedition NÖ
2021, 180 Seiten
ISBN 978-3-902717-63-4

Schon das vorige Werk von Simone Hirth aus Leibzig/ heute Kirchstetten NÖ „Das Loch“ Verlag Kremayr & Scheriau, war so experimentell und köstlich, dass man es gelesen haben muss. Sie behandelt in Form von Briefen wohl ihre eigene Rolle als junge Mutter, die seit der Geburt im Loch sitzt. Gemeinsam mit dem unablässig schreienden Baby reflektiert sie über Gott und die Welt und möchte auch übernächtig schreiben, da sie ja Autorin ist.
Nun hat sie eine witzige Idee der Personalisierung der Poesie beim Trinken eines alltäglichen Kaffees gefunden. Wieder in Form von Prosaminiaturen gibt es stets Überraschungen, die witzig, rebellisch und immer ungewöhnlich verlaufen.
Die Poesie ist jeden Tag der ideale Gesprächspartner: Einmal will sie Klarheit im Unklaren erlangen, alles neu ordnen und dem Allbewährten eine neue Seite abgewinne, dann will sie den Kaffeesatz lesen, denn es gibt ja keine befriedigenden Antworten mehr. Einmal rührt sie mit dem Hammer im Kaffee, dann wieder mit dem Pinsel, auf einem roten Farbkübel sitzend. Sie will die Grauzonen übermalen, sonst nehmen sie überhand. Bei einer Videokonferenz schafft sie sich mit einem (S. 46 ff) Schlag des Holzhammers Gehör und verkündet: „Wenn ihr glaubt, ich bin hier nur die Tante mit den Reimen, dann habt ihr euch getäuscht. Die Agenda ist lang. Beginnen wir mit den Fragen der Gleichstellung der Frau in Politik, Kunst, allgemeinem Berufsleben und familiärem Alltag. ...”
Ja so interessant kann Poesie sein! Als Lesender kommt man nicht aus dem Staunen heraus! Haben Sie gewusst, was man mit der zerbrochenen Lieblings-Kaffeetasse macht? „Die Poesie sagt ( S. 17): Wir sollten nicht mehr draus trinken, wir sollten besser etwas darin einpflanzen, damit es wachsen kann, einen Kaktus, ein paar Vokabeln, eine Landkarte, etwas überflüssige Zeit.”
Nehmen Sie Ihre überflüssige Zeit für dieses Buch!!

Alice Harmer: Auf dem Dach ist die Aussicht endlos oder Die Nachzüglerin

Cornelia Stahl

Alice Harmer:
Auf dem Dach ist die Aussicht endlos oder Die Nachzüglerin

Oberwart: edition lex liszt
2020, 146 Seiten
ISBN: 978-3-99016-169-2

Blumen und Beziehungen. Menschen, Tiere und Blumen gedeihen am besten im liebevollen Miteinander. Dieses wechselseitige, beziehungsreiche Ineinandergreifen spiegelt die Autorin, Meisterin der Kurzform, im vorliegenden biographisch grundierten Roman. Umkreisungen menschlicher Beziehungen zwischen Eltern und Kind, Therapeutin und Klientin sowie zwischen Ärzten und Patienten loten, atmosphärisch aufgeladen, Schieflagen ungleicher Machtgefüge aus. Breiten Raum nimmt die Erzählung um die schwächelnde, namenlose, mit einer Nummer versehenen Greisin ein, die, gefangen im getakteten Krankenhausalltag, ihren Lebensabend in durchnummerierten Räumen verbringt.
Memorierte Erinnerungen fügen sich als Puzzleteile zu einem Bild: barfuß, ungeduldig, möchte sie es den älteren Geschwistern gleichtun oder diese überholen. Metaphorisch wirkt das Erklimmen der Dachschindeln. Träume vom weit fortfliegen leuchten auf. Liebevoll „Zizibe“, „Herzbinkerl“ und „mein Engerl“ genannt, durchbricht die Nachzüglerin Familienordnungen, stellt festgezurrte Gewissheiten infrage.
Innere Monologe und Tagebuchaufzeichnungen heben sich optisch in kursivem Schriftbild vom übrigen Prosatext ab. Montierte Wortfetzen verleihen dem Gesamtwerk Lebendigkeit. Mitunter überlagern sich Stimmen und Akteurinnen. Parallelen zu Marie Luise Kaschnitz gleichnamiger Erzählung „Haus der Kindheit“ sind erkennbar, ebenso Splitter burgenländischer Auswanderergeschichte (Theodora Bauer „Chicago“, 2017). Eigene Zeichnungen ergänzen das Werk idealerweise.
Ein tiefgründiger, fein komponierter Roman, der von den Besonderheiten burgenländischer Lebensart erzählt.

Alice Harmer, geboren 1945, gehört neben Karin Ivancsics, Petra Ganglbauer und Raoul Eisele zu den wichtigsten zeitgenössischen Stimmen burgenländischer Literatur. Letzte Veröffentlichung: Die Farbe der Veränderung, edition lex liszt, 2018