Buch

Florian Gantner: Soviel man weiß

Cornelia Stahl

Florian Gantner:
Soviel man weiß. Roman

Salzburg/Wien: Residenz-
Verlag GmbH, 2021
245 Seiten
ISBN: 978-3-7017-1748-4

Die Dominanz neurotischer Persönlichkeiten.
Beeinflussen Überwachungskameras unser Sicherheitsgefühl? Die Antwort bleibt hier bewusst ausgespart. In Florian Gantners Wiener Großstadtroman, der hauptsächlich im 10. Wiener Gemeindebezirk Favoriten spielt, lösen Kameras Provokationen sowie Unsicherheit in einem Mietshaus aus und tragen zum Misstrauen der Bewohner*innen bei, in dem dünne Wände ungewollt ihren Beitrag leisten, um Informationen weiterzuleiten. Als eines Tages eine Torte namenlos vor einer Wohnungstür platziert wird, liefert sie zusätzliche Verdachtsmomente.
Gantner besticht durch präzise Figurenzeichnung und Szenen, wie den eines Zahnarztbesuches: „Ihm ist, als würde sein Speichel durch den ganzen Raum sprühen“ (S. 49). Wir folgen dem Erzähler durch Wiener Randbezirke: „An der Haltestelle Sandleitengasse steigt er in einen (..) Bus. Mittwochnachmittags hat der durchschnittliche Wiener anderes zu tun, als die Aussicht auf die Heimatstadt zu genießen“ (S. 243).
Alltagsszenen präsentiert der Autor aus Sicht der agierenden Person(en): „Mit einem Mal wird Marek bewusst, dass er der Einzige ist, der allein hier oben ist“ (S.245). Von Anonymität, Fremdheit und Annäherungsversuchen erzählt Gantners Großstadtroman, und von den (neurotischen) Langzeitauswirkungen des albanischem Betonsozialismus. Ein feines Soziogramm der Großstadt.
Florian Gantner, geboren 1980 im Oberpinzgau, studierte Komparatistik. Lehrtätigkeiten an der University of Jordan, Amman und der University of Reading, Großbritannien. Gantner lebt als freier Schriftsteller in Wien, Dramaturg am Theater Werk X Peterplatz. Mitglied der IG Autorinnen Autoren und GAV. Intendant des Festivals Literatur findet Land. Auszeichnungen: Theodor-Körner- Preis, Rauriser Förderungspreis, FLORIANA Literaturpreis. Wiener Literatur Stipendium 2021.

Ilse Kilic: Fadenspannung

Cornelia Stahl

Ilse Kilic:
Fadenspannung

Eine Verbündung
Klagenfurt/Graz/Wien:
Ritter-Verlag, 2021
153 Seiten
ISBN: 978-3-85415-623-9

Weltumspannende Poesie. Dass literarisches Arbeiten keinesfalls in Einsamkeit enden muss, beweist Ilse Kilic im neuen Band „Fadenspannung“. Während einer online-Lesung des Vereins „Alte Schmiede“ verriet die Autorin die Entstehungsgeschichte zum vorliegenden Buch.
Darin lässt sie Begegnungen und literarische Texte von Kollegen/Kolleg*innen Revue passieren, verknotet sie miteinander, ineinander. Feinsinnig und verwebt sie Fragmente zu einem Gesamtkunstwerk ohne dass dabei das jeweils Genuine der einzelnen Teile verlorengeht.
Gekonnt eingearbeitet sind darin Gedichte, Reflexionen. Kilic gibt Einblicke in Erfahrungen oder früher Geschriebenes, zum Beispiel in eigene Romane.
Die Gedichte, wie zum Beispiel von Ilse Aichinger: „Durch und durch/ Wir sind alle/nur für kurz hier eingefädelt (S. 72), Zitate von Fritz Widhalm, Nicolas Scheibner, Lisa Spalt, Jopa Jotakin und anderen liefern eine persönlich grundierte Färbung. Der Stil wirkt offen, mitunter schonungslos. Neben den Texten finden sich Zeichnungen, die die jeweiligen Kapitel wie Fäden miteinander verknüpfen.
Alltags- und Schreibwelten treffen aufeinander: Dem Wirtshaus wie dem Ärztenotdienst wird Raum gegeben. Reflexionen zu kritischen Nackenhaaren (S. 47), Vergänglichkeit und Sehstörungen finden Eingang. Ilse Kilic schreibt entlang von Körperlinien, fragt nach dem literarischen Ich und der Autor*innenschaft. Mitunter verselbständigen sich Romanfiguren und tauchen in Folgeromanen aus dem Nichts wiederholt auf (Das sich selbst lesende Buch, 2016).
Ein (Lebens)Buch, das persönliche und literarische Türen öffnet und für Lesende neue Fäden zur Literatur spinnt.
Ilse Kilic, geboren 1958, lebt mit Bild-, Text- und Tonarbeiten im Fröhlichen Wohnzimmer, in Wien, sie ist Präsidentin der GAV- Grazer Autorinnen Autoren Versammlung.

Michael Horvath: Wiener Hundstage

Hahnrei Wolf Käfer

Michael Horvath:
Wiener Hundstage

Kriminalroman
Stadt, emons
288 Seiten
ISBN 978-3-7408-0913-3

Ich bin kein Krimileser und dieses Who done it wirkt auf mich wie ein Schlafmittel. Aber wenn ich ein gut geschriebenes Buch in die Hände bekomme, bin ich hellwach. Die Sprache sagt einem so viel, wenn man sich vom Stoff nicht allzusehr ablenken lässt.
Selbstverständlich sind in Horvaths„Wiener Hundstage” alle Zutaten vorhanden, die einem Krimileser gewiss Freude machen. Fährten, Verwirrspiel, überraschende Wendungen, hundert beachtenswerte Typen, selbstverständlich die Liebesgeschichte, Schlauheit und mangelnder Durchblick, eine mächtige Organisation des Bösen, Bedrohlichkeit usw. und dazu der allem gewachsene Ermittler. Krimi eben. Aber die Verpackung, die sprachliche Verpackung!
Bei Horvath ermittelt kein kauziger Kommissar, sondern ein Journalist und Ich-Erzähler, was den kurzschnauzigen und vortrefflich charakterisierenden Dialogen einen eigenen Reiz verleiht. Dazu sind die Wiener Hundstage eine Semidokumentation mit allen Freiheiten der Fiktion. Die Kirchenmänner Groer und Kren tragen hier zwar andere Namen, aber von Mock bis Waldheim, von den Sängerknaben bis zu Berlusconi, von Wojtyla bis Opus Dei findet das Umfeld mit Klarnamen Erwähnung.
Etwas verwirrend ist auf den ersten Blick, dass das Protagonisten-Ich, der Journalist, im Glossar von einem zweiten Ich in einigen Dingen korrigiert wird, auf den zweiten Blick hebt just das die Hundstage aus der Masse des Üblichen heraus, die Sicherheit von Erinnerung und Wahrnehmung wird da noch einmal in Frage gestellt.
Nicht nur, aber auch das macht das Buch für den Leser zu etwas, das nach der Auflösung des Falles sicher weiter beschäftigen wird.

Eva Schörkhuber: Die Gerissene

Cornelia Stahl

Eva Schörkhuber:
Die Gerissene

Roman, 227 Seiten
Wien: Edition Atelier. 2021
ISBN: 978-3-99065-047-9

Eine Schelmin erobert die Welt. Wer Eva Schörkhubers Erzählung „Die Blickfängerin“ (2013) mochte, der wird ihre vorliegende Protagonistin Mira ebenso ins Herz schließen. Mira, eine Schelmin und Träumerin, die die Welt neugierig und bisweilen naiv erobert. Bei ihrer Ankunft am Bahnhof von Marseille wird ihr Geld gestohlen. Doch Mira bleibt optimistisch: „So viele Wendungen mein Leben auch genommen, so viele Rückschläge (…) es sind immer wieder jene hellen Momente aufgetaucht..“ (S.11).
Die Hauptfigur, eigenwillig und einfältig, durchwühlt Mülltonnen, avanciert zur Modeschöpferin, feiert Feste im Haus in Marseille, lernt verschiedene Menschen und Substanzen kennen (S. 25). Nach und nach taucht sie ein in eine neue Welt und eine fremde Sprache, die ihr ermöglicht, ihre vorhandenen Französischkenntnisse anzuwenden. Die Reise führt sie weiter ins algerische Oran, wo sie Minirocktaschen entwirft. Die erste Begegnung mit der Wüste Sahara wird zur Herausforderung. Von Hitze und innerer Leere wird die Protagonistin heimgesucht.
Ihre Weiterreise nach Havanna bringt sie in Kontakt mit widerständischen Bewegungen und Wünsche nach einem autonomen und sinnerfülltem Leben flammen erneut auf. Mira, die ohne Konventionen und in Freiheit leben möchte, erkennt, dass jede geographische Erkundung eine Reise ins Innere einschließt.
Der Autorin gelingt mit Mira eine glaubwürdige Figurenzeichnung. Wie schon in der „Blickfängerin“, steht eine Protagonistin im Fokus, die ihr Leben unkonventionell
gestaltet, dabei wiederholt Rückschläge erlebt, dennoch die Zwischentöne als Veränderungszeichen wahrnimmt. Schörkhubers Protagonistin ist ein Beispiel für weibliche Selbstermächtigung!
Eva Schörkhuber, geboren 1982 in St. Pölten, erhielt 2012 den exil-literaturpreis, 2013 den Theodor-Körner- Preis, 2015 die Buchprämie der Stadt Wien, 2020 war sie author@musil in Klagenfurt.

Wolfgang Pennwieser: Jeder Mensch ist eine Insel

Florian Müller

Wolfgang Pennwieser:
Jeder Mensch ist eine Insel

Wien: Czernin Verlag
2021, 160 Seiten
ISBN 9783707607383

Kunst für das Seelenheil. Auch wenn das Malen gegen die Verrücktheit half, war das Malen immer auch Zeichen seiner Verrücktheit. (S. 86) Wallner ist ein Sonderling. Er bemalt Gegenstände, um böse ihnen böse Geister auszutreiben. Sein Umfeld ist gleichzeitig nicht weniger sonderlich: Der Autor, im Brotberuf Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, zeichnet ein durchaus amüsantes Psychogramm einer Kleingartensiedlung in Kritzendorf. Zwei Erzählstränge aus der Vergangenheit und Gegenwart Wallners verknüpft Wolfgang Pennwieser
im Laufe des Romans in einer angenehm klaren Sprache.
Ebenso interessant ist die Benennung der ProtagonistInnen: Da ist einmal Wallner, der von Geburt an mit seinem Nachnamen genannt wird, ein Hinweis auf seine Ich-Störung. Dann gibt es den Bürgermeister als Prototypen eines Politikers. Der Gemeindearzt Malik pflegt eine enge Beziehung zu seinem Patienten. Die Kunsttherapeutin Kronberger entdeckt und fördert sein Talent. Und schließlich ist da Natascha, mit der sich eine innige Freundschaft entwickelt. Je näher die Figuren also um die menschliche Insel Wallners kreisen, desto persönlicher wird ihr Name. Eine Brückenposition nimmt sicher der Galerist ein, der am künstlerischen Talent Wallners verdient, gleichzeitig aber merkt, dass er sein Vertrauen braucht.
Bereits am Cover erkennbar ist der berühmte Gugginger Künstler August Walla Vorbild für Wallner. Auch der Erotik-Profi ist von Karl Vondal inspiriert. Am Ende sind es aber Kunstfiguren mit Versatzstücken aus realen Biografien. „Ich habe Gugging sehr viel zu verdanken“, erklärt Wolfgang Pennwieser. Denn bei seinem Turnus in Gugging entschied er, Psychiater zu werden und viele Jahre später lieferte ein Besuch im Haus der Künstler die Inspiration für sein aktuelles Werk. Jeder Mensch ist eine Insel ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Kunsttherapie mit allen Zweifeln und Problemen, die dazugehören.