Im Gespräch: Reinhard Müller über den Anarchismus. Peter Kaiser

 

 

Peter Kaiser
Reinhard Müller über den Anarchismus
Im Gespräch

 

 

Der Soziologe, Wissenschafts- und Anarchismushistoriker Reinhard Müller erläuterte in einem Gespräch mit Peter Kaiser am 17.11.09 den Begriff des Anarchismus. Hier finden Sie eine strukturierte Zusammenfassung über den Anarchismus per definitionem.

 

Das Schreckgespenst des Anarchismus

Es gibt in den letzten zwei Jahrhunderten kaum einen Begriff, der so sehr mit Vorurteilen überlagert ist, wie der des Anarchismus, beziehungsweise Anarchisten. Man stellt sich unter „Anarchie“ eine Gesellschaft vor, die im Chaos versinkt, und unter „Anarchisten“ eine Bande von Terroristen und Bombenwerfern.

Es hat im 19. Jahrhundert zweifelsohne auch Anarchisten gegeben, welche aus sozialer Verzweiflung Bomben geworfen haben. Man sollte dabei aber bedenken, dass auf eine von einem Anarchisten geworfene Bombe Millionen von Staaten geworfene kommen.

Das aus dem Griechischen kommende Wort besagt ja eigentlich nichts anderes als die Abwesenheit von Herrschaft. Alles andere ist Propaganda der politischen Akteure.

Natürlich ist den Politikern und den Vertretern der Behörden klar, dass sie im Anarchismus abgeschafft würden. Noch heute wird uns daher vorgegaukelt, dass Anarchie gleichbedeutend mit dem Recht des Stärkeren und mit Chaos ist. Die Frage ist, ob wir uns nicht genau vor Zuständen fürchten sollen, welche eigentlich schon herrschen. Das völlige Fehlen von Vertrauen in den hilfsbereiten und sozial denkenden Menschen scheint auch bezeichnend für unsere heutigen Denkmodelle.

 

Die Grundwerte des Anarchismus

Der Anarchismus ist also keine politische Lehre oder Ideologie, sondern eine soziale: eine Weltanschauung. Es gibt auch nicht den Anarchismus, gleichsam als Dogma, sondern eine Vielzahl von Lehren der herrschaftslosen, der herrschaftsfreien Gesellschaft: eben die Anarchismen.

Es gibt aber verbindliche Grundwerte bei diesen Anarchismen. Erstens wird jede Herrschaft von Menschen über Menschen abgelehnt, d.h. der Staat wird abgelehnt, weil er genau diese Herrschaft symbolisiert. An seine Stelle tritt der freiwillige Zusammenschluss von Menschen, welcher jederzeit aufgekündigt werden kann, und jeder Mensch hat auch die Freiheit eine neue Vereinbarung mit einer oder mehreren Gesellschaften zu schließen.

Das Zweite, was die Anarchisten eint, ist die Ablehnung von Ideologien. Ideologien sind im Wesentlichen wiederum Ausdruck von Herrschaft, welche in Institutionen erstarrt ist und welche die soziale Wirklichkeit nicht mehr widerspiegelt. Eine ähnliche Problematik stellen Utopien dar, welche in ihrer Umsetzung, wie wir unschwer am Beispiel des Kommunismus im Sinne des Leninismus gesehen haben, wiederum zu nichts anderem als Unterdrückung und Tötung anders Gesinnter führen.

 

Revolution und Anarchisten

Die anarchistische Revolution kann keine politische sein, und daher ist es wesentlich realistischer, dass sie über eine große Anzahl einzelner Revolten passiert. Vor allem aber gibt es nicht die eine große Revolution, weil es ja nicht darum geht, eine bestimmte Gesellschaftsform zu verwirklichen. D.h., um wirklich anarchistisches Leben zu verwirklichen, braucht es eine Vielzahl von Revolten, welche durch einzelne Individuen oder auch durch Gruppen erfolgen kann, um eben den vielfältigen Anarchismen und Lebensformen gerecht zu werden.

Gustav Landauer [1] hat einmal sinngemäß gesagt, „Anarchist kann man nicht sein, sondern nur werden“, eben weil es die Anarchie, welche sich in eine Schublade sperren lässt, nicht gibt.

Für unsere Gesellschaftsordnung ist der Anarchist nach wie vor ein Feindbild. Der Anarchist ist staatsgefährdend und stellt die bestehenden Ordnungen und Traditionen in Frage. Da er aber in der Regel nicht gewaltbereit ist und damit nicht medienwirksam, ist er als Staatsfeind Nummer 1 mittlerweile vom Terroristen abgelöst worden. Der Anarchist wird als bedrohliche Chimäre an die Wand gemalt, wenn reale Probleme unsere herrschenden Systeme in Frage stellen, konkretisiert werden anarchistische Ideen von den selbsternannten Mahnern niemals.

 

Grenzen und Anarchismus

Anarchisten lehnen Staaten oder staatsähnliche Konstrukte ab, nicht aber freiwillige Gemeinschaften. Diese definieren sich jedoch sicher nicht über ethnische, geografische oder sprachliche Grenzen, sonder lediglich durch die Freiwilligkeit des Einzelnen, einer solchen Gemeinschaft beizutreten. Dadurch, dass jemand in zwei oder mehreren solcher Gemeinschaften aktiv sein kann, gibt es auch nicht die herkömmlichen Abgrenzungen. D.h. das Ganze ist dezentral organisiert – der Anarchismus kennt nur die dezentrale Organisation im Gegensatz zum zentralistischen Staat oder auch zu den Parteien und heutigen Gewerkschaften. Die Anarchismen sehen den Menschen als selbstbestimmtes Individuum, welches sich die Gesellschaft, in welcher es leben will, aussuchen kann und darf.

 

Entscheidungsfindung im Anarchismus

„Konsens“ ist sicher ein ganz wichtiger Begriff innerhalb aller anarchistischen Lehren. Man muss dazu aber bemerken, dass anarchistisch denkende Menschen einen hohen Grad an Toleranz und gegenseitiger Akzeptanz erreicht haben sollten, kurz, dass diese Menschen wissen, dass sie nicht allein auf der Welt sind. Dass bei größeren gemeinsamen Projekten Abstriche bei den eigenen Erwartungen zu gewärtigen sind, das kann man voraussetzen. Was aber auch heißt, dass diese Konsensfindung, von der wir sprechen, in der jetzigen Gesellschaft, in der wir leben, nicht eins zu eins umzusetzen sein wird.

 

Perspektiven des Anarchismus

Reinhard Müller glaubt auch nicht, dass Anarchisten den „Neuen Menschen“, um einen fragwürdigen Terminus aufzugreifen, wollen, sondern eher einen Menschen, der sich wieder den menschlichen Dimensionen annähert. Einen Menschen, der nicht Beipackzettel der Ökonomie ist, der sein soziales Umfeld wieder wahrnimmt, und der die Grundidee des Anarchismus wieder aufnimmt, welche alle Menschen als einander ebenbürtig betrachtet und sie nicht als Konkurrenten sieht, sondern als soziale Individuen, mit welchen man in einer Gemeinschaft zusammenleben will.

Anarchistische Gesellschaften zeichnen sich sicher dadurch aus, dass sie weitgehend konkurrenzfrei sind und daher auch nicht auf der Unterjochung oder Ausbeutung anderer Menschen beruhen brauchen. Diese Grundideen sind im Hier und Heute für jeden Einzelnen im größeren oder kleineren Rahmen umsetzbar.

 

Ökonomie und Anarchismus

Die Anarchismen haben gemeinsam, dass sie eben kein einheitliches ökonomisches Konzept haben. Vom Einzelkapitalisten bis zu kommunistischen Betrieben ist alles möglich. Das hängt damit zusammen, dass sich anarchistisches Handeln stark an den regionalen, sozialen oder auch individuellen Gegebenheiten orientiert und darum kein universales, kein verbindliches politisches oder ökonomisches Prinzip ins Auge fasst. Jede Gemeinschaft sollte selbst entscheiden, welche Form ihr angemessen erscheint, wieder mit der einzigen Grundbedingung: Es darf keine Form der Ausbeutung anderer Menschen sein. Der große Vorteil dabei ist, die Wirtschaftsform den sich ändernden Gegebenheiten laufend anpassen zu können. In diesem Kontext wird auch klar, dass der Kapitalismus – und damit natürlich auch die Arbeitslosigkeit - nur relativ junge Zeiterscheinungen sind und keineswegs Naturgesetze. So wie es auch für den Anarchisten nur zwei Zeitalter gibt: eines, in dem Menschen über Menschen herrschen, und eines, in dem Menschen ohne Herrschaft leben.

 

Erste Schritte zum Anarchisten

Zuerst sollte ich mich mit anarchistischem Gedankengut vertraut machen und entscheiden, welche dieser Ideen für mich realisierenswert und realisierbar sind. Der größte Fehler, den man machen kann, ist sicher, sich zu sagen: In meiner Lebenswelt kann ich gar nichts umsetzen.

Anarchist sein kann man immer und überall. Wichtig ist sicher die anerzogenen und internalisierten Grenzen zu erkennen und zu überschreiten. Natürlich gehört Mut dazu, zu sagen, ich lehne dieses und jenes Prinzip ab, und ich versuche mein Leben so und so zu gestalten, damit ich möglichst vieler meiner anarchistischen Werte verwirklichen kann. Selbstverantwortung ist im Anarchismus immer ein Thema. Es wäre viel zu verhindern, würden mehr nach dem Prinzip der Selbstverantwortung handeln.

Reinhard Müller: „Wir wissen nicht, wie unsere Gesellschaft aussehen würde, gäbe es kein anarchistisches Gedankengut, keine Anarchisten in ihr.“

 

[1] Gustav Landauer: Theoretiker und Aktivist während der Weimarer Republik (1870- ermordet 1919)

 

Reinhard Müller

Soziologe, Wissenschafts- und Anarchismushistoriker.

Ein Forschungsschwerpunkt sind die Arbeitslosen von Marienthal.

http://agso.uni-graz.at/marienthal/

 

Kontaktadressen:

Anarchia-Versand, c/o Amerlinghaus, Stiftgasse 8, 1070 Wien. www.anarchismus.at

Föderation der ArbeiterInnen-Syndikate (Österreich). www.syndikate.at

Pierre Ramus Gesellschaft, Wien. www.ramus.at

Graswurzelrevolution: für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft. www.graswurzel.net

DadA, Dokumentation deutschsprachiger anarchistischer Literatur und Presse. www.dadaweb.de

 

Einführende und vertiefende Literatur zum Thema Anarchismus:
Findus: Kleine Geschichte des Anarchismus. Ein schwarz-roter Leitfaden – Comic. Nettersheim: Graswurzelrevolution, 2009. 57 S. ISBN 978-3-939045-11-3. 7,80.- Euro
Was ist eigentlich Anarchie? Einführung in Theorie und Geschichte des Anarchismus. Berlin: Kramer, 2003. 166 S. ISBN 3-87956-700-X. 18,80.- Euro
Horst Stowasser: Leben ohne Chef und Staat. Träume und Wirklichkeit der Anarchisten. Berlin: Kramer, 2006. 192 S. ISBN 978-3-87956-120-9. 14,80.- Euro

Horst Stowasser: Anarchie! Idee, Geschichte, Perspektiven. Hamburg: Edition Nautilus, 2007. 510 S. ISBN 3-89401-537-3 und 978-3-89401-537-4. 24,90.- Euro

 

etcetera Nr. 43/ Feindbilder. Zwischen Barrikaden und Blockaden./ März 2011