28/ Essay: Geisterbahn, Sylvia Treudl

etcetera 28/ SCHUND/ April 07
GEISTERBAHN

Sylvia Treudl

Das Kind steht da und glotzt und es ist voller Schuld, weil es glotzt und weil es das blöde Kind ist. Schuld ist eine Kategorie Gefühl, die Sicherheit gibt. Schuld ist verbindlich und Schuld ist vertraut. Es gibt verschiedene Schulden. Da ist das schuld-Sein, welches in der Regel mit Schlägen ins Gesicht geahndet wird, im Glücksfall ohne Verzögerung, sofort nach Ruchbarwerdung der Verschuldung, in unmittelbarem Zusammenhang mit der Untat stehend und deswegen pädagogisch als besonders zielführend zu erachten, man hat das angeblich auch in der Hundedressur wissenschaftlich nachgewiesen – das Tier muss Strafe oder Belohnung sofort nach Erbringen oder Nichteinlösen einer Befehlsschuld erfahren, um die jeweils angebrachte Folgebehandlung nachvollziehen zu können. Bei Hunden ist, wie gesagt, auch von Belohnung die Rede, aber das ist jener Teil der Wissenschaft, der auf das Kind nicht so besonders ausgeprägt zutrifft.
Im weniger günstigen Schuldenfall lässt die Sanktion oft lange auf sich warten, was vielleicht einen noch größeren pädagogischen Effekt zeitigt, nämlich den äußerst subtilen Langzeiteffekt von Angst, welche die erstaunliche physikalische Eigenschaft besitzt, sich – auch – verkehrt proportional zur jeweiligen Schuldigkeit verhalten zu können. Das ist aber ein Erziehungsmittel, das für Hunde nicht zielführend ist, da Hunde sich ganz offenbar nicht lang was merken können. Weswegen sie auch so hervorragend geeignet sind, als bester Freund des Menschen zu firmieren, was der Mensch selber pro speciem ja nicht ist, bekannterweise, weil der Mensch nachtragend wie ein Elefant sein kann, wenn er möchte, was wiederum erklärt, weshalb auch Elefanten als beste Menschenfreunde ausscheiden. Hunde hingegen werfen sich bereitwillig unmittelbar nach einer Straf- und Züchtigungsaktion – gerechtfertigt hin oder her, Schuldeinbringung ja oder nein – unterwürfig vor ihrem jawohl-mein-Rudelführer auf den Rücken: Ich zeig dir meine Kehle. Anstatt dem Peiniger mit Reißzähnen an die selbige zu gehen.
Das Kind verachtet Hunde zutiefst, aber das kommt erst später, als das Kind schon ein altes Kind ist, und sich damit abgefunden erklärt, sich auch selbst zu verachten. Und Kinder im allgemeinen zu hassen, manche auch im speziellen, ganz wenige Wenige nur ein bisschen nicht bis beinahe ein wenig zu mögen.
Als junges Kind möchte das Kind selbstverständlich nichts lieber als einen Hund, von dem es annimmt, dieser wäre dann sein bester Freund fürs Leben, was natürlich den ganze Lassie- und Bessie-Kitsch (das eine TV, schwarz-weiß, das andere ein schlecht produziertes Heftl, bunt) impliziert und die Vermutung nahelegt, der jeweilige Collie könne, wenn schon nicht reden, so doch jedes Wort verstehen, also bloß knapp einen Pfotenschritt entfernt vom gemeinsamen Kartenspielen. Oder Wurstsemmel-Bringen, von der gloriosen Attitüde, gemeinsame Abenteuer zu bestehen, ganz zu schweigen. Danke, Rex. Eine erstaunlich lang anhaltende Karriere vom Farmerjungen aus dem mehr oder weniger wilden Westen des allseits bekannten Landes der unbegrenzten Unwahrheiten bis zum Abziehbildkommissar aus Wien, den keiner ernst nehmen kann, weil der jeweilige Schauspieler zum einen immer so wirkt, als würde er sich vor einer wilden Kiebereraktion ein bissl ekeln und sich um sein Designer-Sakko sorgen, zum anderen, weil es solche Krimineser in Wien zum Glück nicht gibt, gar nicht geben kann, denn dieser gestelzte verbale Ausdruckstanz, der von hirnlosen Drehbuchautoren stammen muss, die die reale Welt wahrscheinlich überhaupt noch nie betreten haben und von ebenso hirnederlnden Regisseuren den verkannten Unterhosenmodels in der besten Nebenrolle neben einem Schäferhund angedient wird, ist sogar im Fernsehen unglaubwürdig – und das will was heißen. Kriminelle Elemente könnten bestenfalls dingfest gemacht werden, weil sie an Lachkrampf niederbrechen oder an Hundehaarallergie leiden.

Und wieder glotzt das Kind, und langsam nimmt eine Frage Gestalt an. Das Kind – älter geworden und des Reflektierens mächtig – versucht, einen Ausgangspunkt zu erwischen und geht zurück zum Anfang, das fühlt sich an wie damals, beim Mensch-ärgere-dich-nicht: rausgeworfen und alle Kegel wieder am Neustart, der ein fragwürdiger ist, weil er vom Glück des Sechserwurfes abhängt. Also gut. Das Kind steht da und glotzt. Es ist später Sommer, August genau genommen, wenige Tage vor Schulbeginn und es ist „Ausstellung“, eigentlich heißt es „Landesausstellung“ in Niederösterreich und in Wahrheit ist es ein Volksfest mit Bierzelten und Karussell, für die Fensterverkäufer und Badezimmereinrichter, die Traktorenanbieter und was es sonst noch so gibt an sogenannten seriösen Geschäftemachern mit den Messeangeboten interessiert man sich eher weniger, da wird die ganze Familie halt durchgezerrt, damit man sich nicht den Vorwurf machen muss, man wäre nur wegen des am offenen Feuer gegrillten Ochsens und wegen Bier und Wein und Marillenschnaps gekommen. Die Kinder, ganz allgemein, finden den offiziellen Messeteil der Angelegenheit öd, maulen, sind quengelig im Rahmen des Möglichen, weil gereizt sind eh alle, auch diejenigen, die behaupten, ein wie auch immer geartetes Interesse an dem Schmarrn zu haben, selbst wenn sie nie im Leben einen Traktor oder einen Häcksler brauchen werden und sich das Luxusbadezimmer im Bauernhausdesign nicht leisten können, und deshalb können die Watschen gleich tief fliegen und das wär noch nicht das Furchtbarste – aber wenn die Ahndung so weit geht, dass man dann nicht Autodrom oder Bobbahn fahren darf, wär das die absolute Niederlage. Für das Kind ist das wichtigste eigentlich der Freilauf, wenn die anderen überm Saufen und Fressen den Kontrollzwang lockern, das ungestörte und unbeobachtete Herumstreifen ausnahmsweise gestattet ist, und das Kind wird immer wieder magisch angezogen von der Geisterbahn. Nicht, dass es da freiwillig in so ein Wagerl einsteigen möchte und in den geöffneten Höllenschlund einfahren, das ist dem Kind eine ganz unangenehme Vorstellung – das Davorstehen, Beobachten und Glotzen stellt die Sensation dar. Stundenlang könnte das Kind da nur stehen und schauen, das traut sich das Kind aber nicht, weil es Angst hat, das könnte auffallen und dann ... das mag sich das Kind gar nicht vorstellen. Denn es ist etwas schwer Verbotenes an diesem Schauen, weil das Kind an der Außenhaut dieser Gruselbahn etwas mit einer nie gekannten Dringlichkeit betrachtet, etwas, das zwar offen, öffentlich und kreischend dargeboten wird, das dem Kind aber nicht zusteht. Schuld. Allein durch das Betrachten, das Aneignen, das Hinschauen und der damit verbundenen Missachtung eines nie ausgesprochenen Verbotes. Tabu. Tabubruch. Schwere Schuld. Es ist das Böse, das fasziniert, das sich hier als Dämon, Tod und Teufel präsentiert, aber das allein wäre noch nicht so schlimm, es ist die unverhohlene Lüsternheit, welche diese Nachtgestalten ausstrahlen, die Teufel sind nackt, mehr als dürftig wird dieser Zustand verborgen hinter hündisch vor ihnen schwänzelnden Ungeheuern oder grausamer Foltergerätschaft, aber an den Augen der Teufel und Dämonen ist abzulesen, was Sache ist. Und immer ist das Kind noch nicht beim Schlimmsten…,

Lesen Sie was das Schlimmste ist weiter in „Geisterbahn“ von Sylvia Treudl im etcetera 28/SCHUND Seite 17.

Biografie: Sylvia Treudl
Geboren 1959 in Krems, Autorin und Literaturvermittlerin, ob als Mitbegründerin des Wiener Frauenverlags (jetzt: Edition Milena), als Verlegerin und Herausgeberin der Edition Aramo (z.B. die Anthologie „Schuhe“, 2007), als Leiterin des Unabhängigen Literaturhauses Niederösterreich, als Rezensentin der Zeitschrift „Buchkultur“ oder als Autorin verschiedenster Anthologie-Beiträge sowie zahlreicher Einzeltitel („Zug um Zug, Reisenotizen“, Sporenstiefel halbgar“). In den letzten Jahren hat sich der Erzählanlass für die Autorin gewandelt – waren es früher hauptsächlich Stories, die sich mit Beziehungen, Liebe, Erotik auseinandergesetzt haben, ist es mittlerweile der „Furor“ (so auch der Arbeitstitel des work in progress-Projekts/Erzählungen), welcher sich aus der Betrachtung kultur- und sozialpolitischer Rahmenbedingungen ergibt.