42 / Essay: Eine Österreicherin in Tôkyô: Marie-Therese Goiser

Marie-Therese Goiser
Eine Österreicherin in Tôkyô
Japanische Nudelsuppe und andere Unannehmlichkeiten

Die Ampel schaltet auf Grün. Millionen Menschen jagen auf der Suche nach etwas Essbarem durch die Straßen iner Supermetropole. Es ist Mittagszeit in Tôkyô. Keine gute Zeit für Touristen sich durch die Stadt zu bewegen. Doch hier war ich umgeben von hektischen Menschen, in einer Welt, die sich zirka dreimal so schnell zu drehen scheint wie in Wien. Unglücklicherweise war auch ich auf der Suche nach meinem zukünftigen Mittagessen. Ohne wirklichen Plan spazierte ich einige Zeit durch Shinjuku, blieb vor dem nächsten Restaurant stehen und betrachtete die ausgestellte Speisekarte, die shokuhinsanpuru, haargenaue Wachsimitate der Speisen des Lokals. Angeboten wurde von sushi, ramen und katsudon bis yakisoba alles, was das Herz begehrt. Vollkommen überfordert stand ich vor der Auslage und grübelte darüber nach, was mir wohl am besten schmecken könnte. Während neben mir die Hungerwütigen kurz vor der Auslage stehen blieben, entschieden nickten und gleich ins Lokal verschwanden, wurde mir bewusst, dass ich schnell handeln musste, wenn ich irgendwann einmal zum Essen kommen möchte.

Ich entschied mich für eines der Gerichte und mogelte mich in die Schlange von Menschen, die bereits vor dem Lokal standen. Ich öffnete die Tür und ein ohrenbetäubendes Schlürfen kam mir entgegen. Ein paar Schritte weiter wurde ich von zwei jungen Japanerinnen erschreckt, die mir ein herzhaftes “Irrasshaimasse!” entgegenschrien. Vor Schreck sprichwörtlich zu Eis erstarrt, blockierte ich die Menschenschlange für einen Augenblick und verursachte dadurch einen großen Aufruhr, weswegen mich die zwei Frauen mit einem fast hypnotischen Lächeln zur Seite zogen. Sie erklärten mir, ich dürfe die Reihe nicht stören, verbeugten sich und drängten mich zu einem Automaten, bei welchem ich mir meinen Essenscoupon kaufen sollte.

Keine Bedienung? Ich war etwas enttäuscht, mir wurde gesagt, in Japan sei der Kunde nicht nur König, er sei Gott. Aber ich tat, was jeder andere tat und spielte einige Zeit mit dem Automaten. Zum Glück gab es auf jedem Knopf kleine Fotos von den Speisen und ich musste nur noch das Geld einwerfen und drücken. Ich entschied mich natürlich für ramen, japanische Nudelsuppe, den Inbegriff modernen japanischen Essens. Da ich aber auch interessiert an etwas anderem war, wurde es schlussendlich ein teishoku, ein Set aus mehreren Gerichten, darunter ramen. Preis: 800 Yen, umgerechnet zirka 8 Euro. Das erschien mir erträglich und ich wartete bis der Automat meinen Coupon ausspuckte. Suchend nach dem nächsten Angestellten in diesem Lokal, um meinen gerade erworbenen Coupon einlösen zu können, kamen mir schon die zwei jungen, stimmkräftigen Damen vom Eingang entgegen und deuteten in Richtung einer Theke, vor welcher sich bereits einige Businessmänner im schwarzen Anzug reihten. In „Reih und Glied zu stehen“, scheinen Japaner sehr ernst zu nehmen, da gibt es kein Drängeln und Quengeln.

Die zwei Angestellten hinter der Theke arbeiteten auf Hochtouren und schienen, trotz des enormen Stresses und der Anforderungen der Gäste, nicht aus der Ruhe zu kommen. Es dauerte nicht lange und ich war an der Reihe. Ich übergab den Coupon und innerhalb kürzester Zeit wurde mir ein Tablett mit ramen, einer gehäuften Schale Reis und einem Salat vorgesetzt. Der Koch stieß ein lautes „Arigatô gozaimasu!“ aus, zeigte schlussendlich auf einen Plastikbecher neben einem Wasserspender und wandte sich dem nächsten Kunden zu. Das Lokal ist schlagartig ziemlich voll geworden und ich versuchte schnell, neben einem alten Herrn Platz zu nehmen, um meine Mahlzeit genauer betrachten zu können. Es roch fantastisch und das teishoku kam dem Imitat in der Auslage sehr nahe. Ich teilte meine Stäbchen, steckte sie gerade in meinen Reis und besorgte mir ein Glas Wasser. Als ich zurück zu meinem Tisch kam, starrte der alte Mann entsetzt auf meine Reisschale. Ich setzte mich, er zeigte auf meine Essstäbchen und sagte mit ernster, leicht empörter Stimme:

„Das können Sie nicht machen!“

Sofort zog ich meine Stäbchen aus dem Reis, entschuldigte mich und legte sie auf mein Tablett zurück. Er erklärte mir, dass das vertikale Hineinstecken der Stäbchen in eine Reisschale Teil einer Begräbniszeremonie sei und deswegen niemals gemacht werden dürfe. Etwas peinlich berührt, beschloss ich doch, mit meinen ramen zu beginnen, Nudelsuppe kann wohl jeder essen. Vorsichtig ließ ich einen verstohlenen Blick durch den Raum wandern und sammelte Informationen über das richtige Verzehren von ramen. Kein Löffel, die Suppe wird getrunken und die Nudeln geschlürft. So viel kann ich jetzt nicht mehr falsch machen. Ich setzte die Schale an meinen Lippen an und schlürfte einen guten Teil meiner Suppe in mich hinein. Ein kurzer Blick zu meinem Sitznachbarn: kein Kommentar. Ich war zufrieden.

Die Nudeln, die in meiner schmackhaften Suppe schwammen zu essen, war um einiges schwieriger. Zu allem Überfluss waren meine Stäbchen auch noch lackiert und die Nudeln hafteten noch schlechter auf ihnen. Nach einigen Minuten Verschüttens meiner Suppe wandte sich wieder mein japanischer Freund zu mir, deutete mir, die Schale zum Mund zu führen und die Nudeln mit den Stäbchen nur leicht anzuheben, wodurch sich die gesamten Nudeln, die sich auf den Stäbchen befanden, einsaugen ließen. Sehr beeindruckt von seinen Nudelsuppenschlürffähigkeiten versuchte ich es ihm gleich zu machen, versagte aber kläglich. Der alte Mann lachte mit weit offenem Mund auf, klopfte mir auf die Schulter und verschwand aus dem Lokal.

Irgendwie schaffte ich es dann aber doch, mein ganzes Mittagessen zu verspeisen, ohne weitere Lachausbrüche von anderen Japanern zu provozieren. Gänzlich gesättigt von meinem japanischen Mittagessen, von dem auch zwei stattliche Männer hätten satt werden können, beschloss ich, anderen touristischen Aktivitäten nachzugehen. Auf dem Weg zurück in den pulsierenden Alltag Tôkyôs verbeugten sich noch einmal die „Empfangsdamen“ vor mir und aus der Küche grölte jemand ein „Arigatô gozaimasu!“ bevor mich der Menschenstrom der Rush-Hour Shinjukus wieder schluckte.

Marie-Therese Goiser
Geb. 1990, St.Pölten. Studentin an dem japanologischen und kunsthistorischen Institut der Universität Wien.