43/ Essay: Hören mit Schmerzen. Peter Kaiser

Peter Kaiser
Hören mit Schmerzen
Ein Plädoyer für Neue Musik

Was für den Swing-Hörer der Free Jazz ist, ist für den Klassik-Liebhaber die Neue Musik. Im negativen Falle ein absolutes Schreckgespenst, im Positiven stellt sie einen progressiven Höhepunkt in der jeweiligen Entwicklung dar. In jedem Fall aber sind beide eine Herausforderung für den Hörer.

1.

Der Autor wagt zu behaupten, dass bei der Neuen Musik nur eine vage Möglichkeit besteht, diese auf Anhieb und ohne Kenntnis der musikgeschichtlichen Entwicklung der klassischen Musik genießen zu können. Vielleicht liegt die Bereitschaft eines unvoreingenommenen Hörers eines gänzlich anderen Kulturkreises diese Musik aufzunehmen sogar höher als bei einem „westlich kultivierten Ohr“. Ein intellektuelles Verständnis und tatsächlicher Hörgenuss scheinen aber sehr wenig wahrscheinlich.

Die Wege zur Neuen Musik führen über ihre historischen Vorgänger und klassischen Vorkämpfer, welche ja auch zu ihrer Zeit wiederum Neue Musik gemacht haben.

Vielleicht könnte man auch sagen, die Neue Musik ist der Zeitgeist der Klassischen Musik, obwohl ihre Ausformungen keinesfalls so abgrenzbar sind, wie wir dies zum Beispiel beim Begriff Barockmusik empfinden.

Die Neue Musik, wie sie heute im Großen verstanden wird, ist teilweise gekennzeichnet durch die Aufgabe gewohnter Harmonien oder das Fehlen von Tonalität. Sie setzte mit der Spätromantik ein, wonach die Entwicklung der Zwölftonmusik einen frühen und expressiven Höhepunkt der Neuen Musik darstellte. Der Begriff selbst wurde übrigens vom Musikjournalisten Paul Bekker 1919 aufgebracht und für Musik verwendet, welche mit traditionellen kompositorischen Methoden weitgehend gebrochen hatte. Ein erster Meilenstein in dieser neuen Tradition ist also die Zweite Wiener Schule mit den Säulenheiligen Schönberg, Berg und Webern; wobei gerade diese heute eben schon nicht mehr zur Neuen Musik gerechnet werden, sondern zur Klassischen Moderne.

Machen wir es uns also einfach und lassen die aktuelle Neue Musik ihren Geburtstag mit Ende des Zweiten Weltkriegs feiern und erlauben wir uns zur Weiterverfolgung der Klassischen Moderne, Musik bis 1945, auf einschlägige Literatur zu verweisen oder für Eilige auf den sehr ausführlichen Wikipedia-Artikel „Neue Musik“.

Interludium 1 – Die Hörer

Für den Puristen endet die Klassik und damit das Kulturgut Musik bei Brahms, wobei dieser schon als Grenzfall gilt. Der überbordende Eklektizismus eines Gustav Mahler gilt diesem als dekadent und vermutlich defätistisch. Kindertotenlieder schreibt man nicht, weil Gott Kinder nicht sterben lässt. Zumindest nicht in den gottesfürchtigen Familien. Die (unverständlicher Weise nicht für alle attraktive) Harmonie in eben diesen Familien duldet damit auch den Missklang nicht, welche die für diese Zeit beispiellosen 6 Bagatellen von Anton Webern in der ersten Version von 1911 verbreiten. Der frech-frivole Pierrot Lunaire aus 1912 von Arnold Schönberg fiel dem guten Geschmack der konservativen Wiener Musikliebhaber ebenso zum Opfer wie ihr Generalmusikdirektor einige Jahre davor. Alban Bergs Wozzeck (1925 erstmals aufgeführt) war als Synonym für menschenverachtendes Handeln nur schwer erträglich. Das Schicksal der von der gottgewollten Ordnung stiefmütterlich Behandelten ist in Monarchie, Ständestaat und Faschismus das Gleiche, und zwar das Subjekt, geboren als Knecht, gestorben als Kanonenfutter.

Diese neuen Themen, welche sehr nah am Leben und Leiden des Menschen sind, setzen eine innere Einstellung des Hörers voraus, welcher es bis dahin beim Hören von klassischer Musik nicht bedurfte: Humanität, Sensibilität und kritisches Denken. Unverantwortlich simplifizierend könnte man sagen, dass sich bei einer Aufführung von György Ligetis Le Grand Macabre keine Schrebergartenfaschisten finden werden, bei einer Pucchinis Madame Butterfly sehr wohl.

2.

Ein Liebhaber Neuer Musik empfindet körperliches Unbehagen beim Hören von Popmusik oder Kuschelrock. Die bewusste Auseinandersetzung mit den zweifellos sehr anspruchsvollen Klängen Neuer Musik verändert zweifellos das Verständnis von Musik und die Musikwahrnehmung und macht seichtes Gedudel zur reinen Lärmbelästigung. Neue Musik ist das Gegenteil von Kitsch. Exemplarisch ist die Beschäftigung einiger Intellektueller (allen voran T. W. Adorno) mit der Abstraktion und den Zusammenhängen dieser Musik, welche sich aus der kritischen Analyse der Tradition und der gegenwärtigen sozialen und politischen Situation ergibt: Die Neue Musik darf nicht kitschig sein. Was nicht heißen will, dass Neue Musik politisch, kritisch oder analytisch und atonal sein muss. Sie ist oft auch witzig, wie wir dies gerade bei den zeitgenössischen österreichischen Komponisten finden…

Eine, der Aleatorik verwandte, meditative und sehr erlebnisbezogene Spielform der Neuen Musik (mit bewusster Abkehr von den Inhalten derselben), stellt die minimal music der Amerikaner Philip Glass, Steve Reich oder Terry Riley dar. Auf intellektuellen Anspruch verzichtet sie allerdings.

Exkurs 2 – 15. Jahrhundert und immer

„Diese ars nova genannte Form der Musik hat mich bis ins Mark getroffen. Als wenn plötzlich die Stäbe weggezaubert wären, desselben Käfigs dessen bis dato Gefangene wir waren. Die vielen Stimmen entfalteten vor mir eine Landschaft von schrecklicher und ungeschauter Schönheit. Nicht wenige der Zuhörer aber, begannen zu heulen und gräuslich zu schimpfen.“ Zitat: Silvius Helveticus, zu Paris, ca. 1400.

Wenn man diese zeitgenössische Betrachtung des Hörerlebnisses eines reisenden Kaufmanns in einer Pariser Kathedrale in den Anfängen der polyphonen Vokalmusik liest, weiß man, dass die Aufnahme alles Neuen immer mit Zähneknirschen und Buhrufen verbunden ist und der Mensch im Eigentlichen ein konservatives Tier ist und der geniale Künstler fast immer aus seiner Zeit herausfällt. Warum sollte sich das geändert haben?

3.

Das Problem der Abgrenzung und Schubladisierung. Durch die Nachwehen einer mit Beginn der Cartesianisierung wissenschaftlich geprägten Sicht auf alle Bereiche unserer Erfahrungswelt haben wir scheinbar Probleme mit Erscheinungen, welche sich einer Ein- und Abgrenzung entziehen. Wir vergessen dabei, dass gerade in der Kunst die Epochen mit ihren klar umrissenen Ausdrucksformen erst im Nachhinein so wurden, wie sie heute von uns verstanden werden. Die Neue Musik entzieht sich diesem Prozess eindeutig und dennoch wäre es falsch, alles, was an Ernster Musik nicht eindeutig zuzuordnen ist, als Neue Musik zu bezeichnen. Stellvertretend sollen hier die Berührungspunkte zu verschiedenen Ausformungen des Jazz angeführt werden. Die Konzeptalben eines Charles Mingus („The Clown“, „Pithecanthropus Erectus“), Miles Davis (Sketches of Spain) oder Carla Bleys Jazzoper „Escalator over the Hill“ weisen in ihrer durchkomponierten Symphonik bekennender Weise auf klassische Vorbilder hin und werden doch als Jazz oder Fusion verstanden. Neue Musik ist also kein Crossover aus beliebigen  Kompositionsstilen. Einer, welcher es uns zum Beispiel nicht leicht machen will, ist zweifellos Edgar Varèse, von welchem eine klare Linie zu Mingus und Frank Zappa führt oder der Autodidakt Erik Satie, welcher in den Fremdbearbeitungen populärer ist als im Original.

Vielleicht aber ist gerade das ein Merkmal der Neuen Musik: das unverschämte Spielen mit traditionellen Formen (und damit deren Beherrschung) und deren hemmungslose Verschmelzung mit den Stilmitteln der zeitgenössischen Musik. Ich verweise hier auf Sergej Prokofieffs „Symphonie Classique“, Alfred Schnittkes „Stille Nacht“ oder György Kurtágs „Hommagen“ stellvertretend für unzählige Beispiele. Was bei der Neuen Musik im Gange scheint, ist der lustvolle und kritische Umgang mit allen Stilen der Musikgeschichte, als Eklektizismus verunglimpft, in Wahrheit aber „das Weitertragen des Feuers der Tradition und die Bestattung ihrer Asche“ (frei nach Gustav Mahler).

4.

Ein schönes Beispiel für die Schwierigkeiten der Einordnung stellt die Eingliederung Kurt Weills, Paul Dessaus und Hanns Eislers dar. Komponisten, welche die politische Aussage ihrer Musik über alle Fragen der Konvention stellten; relative Eingängigkeit und doch unerhört Neues bringen sie und dies noch dazu erfolgreich! Eine künstlerische Symbiose, wie hier die Verschmelzung der Komponisten mit den Texten Bert Brechts, kann als großer Glücksfall gelten. Die Neue Musik macht es dem Hörer nicht absichtlich schwer. Man denke z.B. an die Franzosen Darius Milhaud und Francis Poulanc, bei denen Micky Mouse durchs Repertoire turnt! Gehen wir also davon aus, dass das elitäre Element vorhanden oder empfunden sein mag, aber nicht aus einer Hybris heraus entstanden ist. Eindeutig nicht in diese Kategorie fallen wollen die österreichischen Komponisten Otto M. Zykan, Kurt Schwertsik oder Bernhard Gander. Fast scheint es, dass sie mit ihrem Humor die Orchestergräben zuschaufeln wollen. Eine Frage, welche ich nicht beantworten kann, ist die nach den Voraussetzungen dafür, diesen Spaß als solchen erkennen und genießen zu können. Auch hier mag ein unverbildeter Zugang nützlich sein.

Daneben stehen nun Komponisten und Komponistinnen, welche ihre schöpferische Kraft aus der Mystik oder dem Glauben ziehen: Arvo Pärt, Sophia Gubaidulina oder Oliver Messiaen.

Was die Komponisten moderner Musik also scheinbar eint, ist ihre fehlende gemeinsame Ideologie oder Gesinnung. Oder erliegen wir wieder einem unzulässigen Vergleich?

5.

Ohne Wittgenstein bemühen zu müssen, liegt klar zu Tage, dass sich niemand nach dem Lesen eines Essays oder einer wissenschaftlichen Arbeit plötzlich für Neue Musik begeistert. Diese Tatsache ist auch keinesfalls verstörend. Die Lust, aus dem Vollen zu schöpfen und die beginnende Fähigkeit Bezüge zwischen einzelnen Komponisten und Stücken herzustellen, ist mit Tinte nicht zu vermitteln. Schwer verständlich hingegen scheinen jene, welche sich als Musikliebhaber bezeichnen und dennoch freiwillig auf die Wundertiere von Streichermusiken eines Thomas Larcher, Friedrich Cerha oder Isang Yun verzichten. Die Sinnenräusche eines Heiner Goebbels, die Spiritualität eines John Cage oder der Irrsinn des Helikopterquartetts von Karlheinz Stockhausen, außerdem die verschiedenen Techniken: Zwölftonreihen, Musique spectrale, Atonalität, Aleatorik sowie das Diktum: Bis hierher und nicht weiter - und damit das Ignorieren von gut einhundert Jahren Entwicklung und Reichtum - scheinen bei näherer Betrachtung schwer verständlich. Es ist tatsächlich auch Wille und Leidenschaft, Schwindelfreiheit und eine gehörige Portion Bemühen erforderlich, um in die Achterbahn der Neuen Musik einzusteigen. Aber welche Belohnung erwartet jene, die es wagen: „Landschaften von schrecklicher und ungeschauter Schönheit!“

Hinweis: Im Frühsommer 2011 wird eine gemeinsame Arbeit von Peter Kaiser und Markus Polivka zur Neuen Musik in St.Pölten uraufgeführt: мнр (Welt, Friede).

Peter Kaiser
Geboren 1968 in St. Pölten. Gelernter Buchhändler. Organisator und Mitinitiator von Kunstprojekten (stockWERK, Skulptur am See), Literaturfestivals (KIJUBU, Blätterwirbel) und Rezensent. Er lebt in St. Pölten und ist selbstständig tätig. Seit 2011 im Vorstand der LitGes.

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