44/ Essay: Weil der eigene Tod nicht erfahrbar ist, ist auch Gott nicht erfahrbar. Uwe Bolius

Weil der eigene Tod nicht erfahrbar ist, ist auch Gott nicht erfahrbar
Uwe Bolius

Erst wenn die Sehnsucht nach Nähe, das Verlangen nach Lust aus Kindern Erwachsene macht, entsteht auch die Gewissheit des eigenen Sterbens und bereitet den Bewusstseinsplatz vor – er ist leer –, den die Religionen dann ausfüllen können. Es sind gleichsam die Pubertierenden, die Gott, oder, im Buddhismus, das Nichts schaffen. Gott entsteht, ebenso wie die Ewigkeit, die Zeit und das Nichts, erst aus der Not des Erkennens und der Bedrängnis durch die Lust. Ohne Erkenntnis und Lust auch kein Gott. Gott ist ein Bewusstseinsprodukt; die Zeit und das Jenseits entstehen gemeinsam mit ihm.

Nur erwachsene Menschen, die wissen, was man bekanntermaßen nicht wissen kann: dass sie einmal sterben müssen, stellen sich die Frage nach dem Jenseits des eigenen Lebens. Kein Mensch hat seinen Tod je erlebt oder wird ihn einmal erleben. Die Frage nach dem Danach, dem „Drüben“, mit Gott zu beantworten, oder mit dem Nirwana, beendet die Dauerreflexion des Bewusstseins und tröstet.
Weil der eigene Tod nicht erfahrbar ist, ist auch Gott nicht erfahrbar, auch nicht das Nirwana, aber daran zu glauben ist möglich.
Ja, mehr noch, notwendig. Es ist der Mensch, der Gott schafft.

Aber auch diese Erkenntnis verhüllen die Religionen. Weder Buddha noch Jesus, weder Mohammed noch Moses behaupten von sich als Religionsgründer, Gott geschaffen zu haben. Im Gegenteil. Sie werden nicht müde, sich auf einen Gott oder die Erleuchtung zu berufen, der oder die ihnen diese Ideen eines Jenseits „eingegeben“ habe. Sie verstecken sich hinter jenen Ideen, die sie geschaffen haben.
Und mit einem gewissen Recht tun sie gut daran. Nur auf diese Weise lässt sich der unendliche Regress nicht aufhören wollender Begründungen stoppen – wer war früher da: Henne oder Ei, Gott oder Mensch? – nur so können sie ihre Schöpfung einer höheren Autorität unterstellen, als sie selber sind, und von ihren Mitmenschen fordern, sie anzuerkennen, an sie zu glauben.

Als Moses mit den zwei steinernen Gesetzestafeln vom Berg Sinai herabsteigt, sieht er sein Volk um das „goldene Kalb“ tanzen – es wollte keinen Eingottglauben, keine zehn Gebote, keinen unsichtbaren Gott, nein, es wollte Lust, Ausschweifung und anschaubare, anbetbare Götter wie das Kalb. Da packt Moses die Wut und er zerschmettert die Tafeln. Aber auch ihn selber erfasst das so geschmähte Verlangen nach Lust und Sinnlichkeit: er verlangte von seinem Gott, ihn „von Angesicht zu Angesicht“ sehen zu dürfen – was der ihm verweigert. Schnurstracks bekommt der „Herr Israels“ seinerseits einen Wutanfall und droht Moses, sein „auserwähltes Volk“ zu vernichten; was Moses gerade noch verhindern kann. Worauf Gott die steinernen Tafeln ein zweites Mal in Auftrag gibt und der Religionsgründer ein zweites Mal, wieder mit den steinernen zehn Geboten in der Hand, vom Berg Sinai zu seinem Volk hinabstapft, es beschimpft und bestraft und mit all seiner moralischen Wucht, über die er verfügt, sogar mit Gewalt, den Monotheismus bei den Juden durchsetzt.

Als Moses von Gott verlangt, ihn sehen zu dürfen, antwortet ihm der ziemlich barsch: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich siehet.“ Worauf er Moses den Befehl erteilt, neue Gesetzestafeln herzustellen, „dass ich die Worte darauf schreibe, die in den ersten Tafeln waren, die du zerbrochen hast.“ – „Da nun Mose vom Berg Sinai ging, hatte er die zwo Tafeln des Zeugnisses in seiner Hand; und wusste nicht, dass die Haut seines Angesichts glänzete davon, dass er mit ihm geredet hatte.“

Kaum etwas beschreibt das „Schaffen“ Gottes durch den Menschen, das Hin und Her der gegenseitigen Projektionen, besser als diese Geschichte aus dem Alten Testament vom Berg Sinai und den zehn Geboten, deren erstes und wichtigstes der eine Gott war, „neben dem es keinen anderen Gott“ geben durfte: Der Mensch schafft sich Gott, den einen und einzigen, der seinerseits als jemand geschaffen wird, der den Menschen schafft – und zwar ganz genau „nach einem Bild, das uns gleich sei“. Präziser als die Bibel hat noch nie jemand das Problem der Menschwerdung beschrieben:
Der Mensch schafft Gott, der den Menschen schafft; – der Zirkel der Projektionen ist perfekt und wasserdicht, man muss nur daran glauben.

Die Verdrängungsleistung des Religionsschöpfers wird in der Bibel ebenfalls präzise geschildert: Moses „wusste nicht, dass die Haut seines Angesichts glänzete.“ Sein eigener Schaffensprozess, „dass er mit ihm (mit Gott) geredet hatte“, hatte ihn glücklich gemacht. Mit diesem Glück auf der Haut tritt er vor sein Volk, das „sich fürchtete, sich ihm zu nahen“, als es des Glanzes gewahr wurde. „Und er redete mit ihnen“, glückstrunken, wie Moses in diesem Augenblick war. „Darnach naheten alle Kinder Israel zu ihm. Und er gebot ihnen alles, was der Herr mit ihm geredet hatte auf dem Berge Sinai.“

Deutlich wird dabei auch, wie wichtig die Sprache ist. Wenn Moses mit Gott redet, oder umgekehrt, dieser mit ihm; wenn Moses mit seinem Volk redet, oder auch umgekehrt, dieses von ihm Rechenschaft fordert – alle, wirklich alle religiösen Inhalte, von der Erschaffung der Welt angefangen über die Schilderung der einzelnen Väter, später der einzelnen Stämme Israels, bis hin zu den vielen Geboten, die Moses und sein Gott dem Volk auferlegen – ohne differenzierte, sprachliche Ausformulierung wäre die Religion nicht möglich. Manchmal erstickt sie darunter.

Und erst ein weiterer Religionsgründer, Jesus, wird diese ungeheure sprachlich-moralische Last, unter denen die Juden zu leiden haben, und wieder mithilfe der Sprache, aber auch unter Einsatz des eigenen Lebens, Jahrhunderte später ein wenig erleichtern und auf das wichtigste, das Liebesgebot hin zentrieren. Das freilich wieder eine Religionsgemeinschaft entstehen lässt, das Christentum, das die Einfachheit des Liebesgebots millionenfach überwuchert, bis hin in ihr Gegenteil, der Sünde, die in allen christlichen Kirchen so stark zuhause ist, dass man sie oft von der Liebe nicht unterscheiden kann.

Die Kuppel des Petersdoms, Michelangelos Schöpfung, ist so schön, dass man eigentlich nur mehr hinschauen mag, wenn man sie sieht; ich kenne keinen schöneren, harmonischeren, in sich und seinen vollendeten Maßen schwebenden Kuppelbau auf dieser Welt. Auch die Colonnaden des Bernini auf dem Platz vor dem Dom, mit dem (schon von den Römern den Ägyptern geklauten) Obelisken in seiner elliptischen Mitte, sind schön und formvollendet in ihrer weltumgreifenden Symbolik; es ist die steingewordene Weltherrschafts-Geste Roms, die die Menschheit mit ihrer Umarmung erdrückt.
Dennoch: Mit dem Liebesgebot von Jesus, da hatte Martin Luther schon Recht, sind beide Schönheiten nur schwer unter einen Hut zu bringen.

Um nur ja keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: die Tatsache, dass der Mensch „Gott schafft“, heißt nicht, dass Gott „nur“ im Bewusstsein des Menschen existiert, und sonst nicht. Wo soll er denn sonst existieren, wenn nicht dort? Im bewussten Glauben des Menschen eben.

Dieses Schicksal teilt „Gott“ übrigens mit vielen anderen Begriffen, etwa den Zahlen, oder Raum und Zeit. Auch sie haben ihren genuin angestammten Platz „im“ menschlichen Bewusstsein, und nicht außerhalb dessen. Der Satz „Gott existiert“ ist erkenntnistheoretisch vom Satz „Die Welt existiert“ nicht unterscheidbar, auch nicht von der Aussage „Ich existiere“. Existenz kann man nie wissen, gar beweisen. Jegliche Existenz, auch die des Sessels dort beim Tisch oder die des Bettes in der Ecke des Raums, muss man glauben. Dass etwas existiert, und nicht nichts, ist ein Wunder – und Wunder kann man bekanntlich nie wissen, nur glauben.

Uwe Bolius
Geb. 1940 in Linz, er ist verheiratet hat drei Kinder und lebt in Wien. Uwe Bolius besuchte von 1954 bis 1959 eine Fachschule für Elektrotechnik. Anschließend studierte er Philosophie. 1966 promovierte er mit einer Arbeit über Kant an der Universität Wien zum Doktor der Philosophie. Es folgte eine Tätigkeit als Journalist. Von 1968 bis 1969 war er wissenschaftlicher Assistent an einem College in St.Cloud (Minnesota). Seit 1971 lebt er als freier Schriftsteller und Dokumentarfilmer in Wien. Uwe Bolius ist Verfasser von Romanen, Erzählungen und Sachbüchern. Uwe Bolius gehörte ab 1979 der Grazer Autorenversammlung an; er ist außerdem Mitglied der IG Autorinnen Autoren. 1979 erhielt er ein Österreichisches Staatsstipendium für Literatur, 1981 einen Sonderpreis der Rauriser Literaturtage sowie 2002 den Salzburger Kulturpreis für Menschenrechte und Integration. Letzte Veröffentlichungen: „Hitler von innen“ 2008 Limbus Verlag, „Juttas Tod“ 2010 Limbus Verlag.

etcetera 44/ drüben/ Juni 2011