46/ arbeits-los/ Essay: Im Fokus - Marienthal. Reinhard Müller

Reinhard Müller
Im Fokus: Marienthal

Ein Ort, der Kultur-, Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte schrieb

Wer „Arbeitslosigkeit“ sagt, muss auch „Marienthal“ sagen – zumindest in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Die so genannte Marienthal-Studie, also das erstmals 1933 erschienene Buch „Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit“ von Marie Jahoda (1907–2001) und Hans Zeisel (1905–1992), eröffnete neue Dimensionen in der Arbeitslosenforschung.

Bis zur Marienthal-Studie bestand die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Arbeitslosigkeit im Wesentlichen in juristischen Erörterungen von Fragen der Arbeitslosenunterstützung sowie in der bloßen Zählung der Köpfe von Arbeitslosen nach Geschlecht, Alter, Beruf und anderen Merkmalen. In der Marienthal-Studie wurde erstmals versucht, die psychischen und sozialen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf Einzelne und auf eine Gemeinschaft umfassend und facettenreich zu erheben, zu analysieren und darzustellen. Mittlerweile, ein dreiviertel Jahrhundert nach ihrer Entstehung, gilt die Studie nicht nur als ein noch immer aktuelles Grundlagenwerk der Arbeitslosenforschung, sondern weltweit auch als eine der bedeutendsten Gemeindestudien, als eine Pionierarbeit auf dem Gebiet der Soziographie, als ein richtungsweisendes Produkt der empirischen Sozialforschung sowie als ein sozial- und kulturwissenschaftlicher Klassiker.

Mythos Marienthal

Die Marienthal-Studie machte Marienthal zum international wohl bekanntesten Ort österreichischer Wissenschaft im ländlichen Raum. Dennoch haftet dieser Bekanntheit etwas Mythisches an. Rätselhaft scheint, dass dieser Ort auf kaum einer Landkarte zu finden ist. „Marienthal“ bezeichnet nämlich kein Dorf im verwaltungstechnischen Sinn, sondern ist lediglich der Name für eine 1820 gegründete Fabrik und die seit 1845 entstandene dazugehörige Arbeiterkolonie. Beide liegen rund zwanzig Kilometer südlich von Wien, zum Großteil in der Marktgemeinde Gramatneusiedl, ein kleiner Teil, die Marienthaler Siedlung Neu-Reisenberg, befindet sich in der Nachbargemeinde Reisenberg.

Außerdem beschreibt und analysiert der zeitliche Querschnitt der Studie lediglich das Marienthal des Winters 1931/32, also das von Arbeitslosigkeit geprägte „Dorf“ nach Schließung der Textilfabrik 1929/30. Das führte zu einer allgemeinen Gleichsetzung „Marienthals“ mit außerordentlicher Arbeitslosigkeit, wenngleich diese nur ein halbes Jahrzehnt währte. Unbeachtet blieben dabei die hoch entwickelte Arbeiter- und die bemerkenswerte Unternehmerkultur Marienthals, ebenso dessen Bedeutung als Industriestandort, der mit seiner knapp zweihundertjährigen Geschichte zu den ältesten, durchgängig und immer noch aktiven Industriestandorten Österreichs zählt.

Die Textilfabrik Marienthal

Am Beginn der Geschichte Marienthals stand der herausragende Erfinder Franz Xaver Wurm (1786–1860), der die Textilfabrik 1820 begründete. Er entwickelte nicht nur die erste brauchbare Flachspinnmaschine Europas, sondern ging auch als erster Banknotenfälscher Österreichs in die Geschichte ein. 1830 übernahm der Bankier und jüdische Philanthrop Hermann Todesco (1791–1844) die Fabrik und richtete hier die erste rein mechanische Baumwollweberei Österreichs ein. Zu einem Großunternehmen wurde die Fabrik allerdings erst unter dessen ältestem Sohn, Max Todesco (1813–1890), der 1847 ein neues Fabrikgelände erschloss und die Zahl der Beschäftigten innerhalb eines Jahrzehnts von rund 140 auf fast 1.000 erhöhte. Damit wurde die Schaffung von Wohnraum nötig, und er begründete die zur Fabrik gehörige Arbeiterkolonie mit zuletzt 25 Wohngebäuden mit knapp 500 Wohnungen. Dazu kamen Infrastruktureinrichtungen wie eine Kinderbewahranstalt, eine Fabrikschule, ein Krankenhaus mit Badeanlage, ein Fußball- und ein Tennisplatz, ein Tanz- und Theatersaal sowie der nach Wien erste Montessori-Hort in Österreich. Max‘ jüngere Brüder, Eduard von Todesco (1814–1887) und Moritz von Todesco (1816–1873), übernahmen 1858 die Fabrik und fusionierten sie 1864 mit der nahe gelegenen Textilfabrik Trumau zur „Marienthaler und Trumauer Actien-Spinn-Fabriks-Gesellschaft“, später „Actien-Gesellschaft der Baumwoll-Spinnereien, Webereien, Bleiche, Appretur, Färberei und Druckerei zu Trumau und Marienthal“. Eduard und Moritz von Todesco waren bedeutende Vertreter des österreichischen Liberalismus, wichtige Mäzene der Kunst ihrer Zeit und typische Repräsentanten der so genannten Ringstraßenbarone: Beide wurden in den Adelsstand erhoben, und beide ließen sich prächtige Palais an der Wiener Ringstraße errichten. Die Textilfabrik Marienthal bestand zuletzt aus drei Hauptbetrieben: einer Spinnerei, einer Weberei und einer Druckerei.

Dazu kamen Hilfsbetriebe wie Färberei, Wäscherei, Bleiche und Appretur sowie eine Reihe von Nebengewerben nur für den eigenen Bedarf wie Schmiede, Schlosserei, Eisendreherei, Tischlerei und Zimmerei. Die Fabrik Marienthal umfasste 1930 insgesamt 157 Gebäude und Anbauten mit 46.005 Quadratmetern verbauter Fläche auf 28.784 Quadratmetern verbauter Grundfläche.

Die Katastrophe

1925 übernahm der Industrielle Isidor Mautner (1852–1930) die Marienthal-Trumauer Aktiengesellschaft und gliederte sie seinem Industrieimperium ein. Sein Konglomerat von zahlreichen Aktiengesellschaften repräsentierte das größte Textilunternehmen Österreich-Ungarns und eines der größten Europas. Unter Mautner wurde die Weberei 1927 mit neuen, modernsten Standards entsprechenden Maschinen ausgerüstet, 1928 musste in der Spinnerei sogar eine zweite Schicht eingeführt werden, und 1929 gab es mit 1.290 Beschäftigten den höchsten Personalstand in der hundertzehnjährigen Geschichte der Textilfabrik Marienthal.

Dennoch: Im Juni 1929 wurde die Spinnerei mit zuletzt 45.000 Spindeln stillgelegt, im Juli die Weberei mit 808 Webstühlen, im August die Druckerei mit sieben Rohdruckmaschinen, im September der Bleiche- und Appreturkomplex: Mit 12. Februar 1930 war die Textilfabrik Marienthal vollständig geschlossen. Was war geschehen?

Drei Faktoren wirkten zusammen. Stephan Mautner (1877–1944), Sohn von Isidor Mautner und dessen Generaldirektor- Stellvertreter, war auch Präsident der „Neuen Wiener Bankgesellschaft“. Diese brach – eine Vorbotin der Weltwirtschaftskrise – 1926 zusammen. Die Familie Mautner verlor durch diesen Bankenruin einen ersten Teil ihres Vermögens. Ungleich bedeutender für den Untergang des Mautnerschen Imperiums war aber die hohe Verschuldung des Mautner-Konzerns bei seinen Hausbanken, der Wiener „Boden-Credit-Anstalt Aktiengesellschaft“ und der Prager „Živnostenská Banka akciová společnost“. Die Banken, die über Aktien ein gewichtiges Mitspracherecht bekamen, erzwangen im Herbst 1928 Isidor Mautners Rücktritt als Präsident seiner zahlreichen Gesellschaften. Seinem Nachfolger, Sohn Stephan, fehlten wegen der Verschuldung zuletzt die finanziellen Mittel, um den Rohstoff für seine Fabriken aus Triest zu beziehen. Der Hauptgrund für die Schließung der Textilfabrik Marienthal lag aber bei der „Boden-Credit-Anstalt“, die selbst vor dem Ruin stand und 1929 mit der „Credit-Anstalt Aktiengesellschaft“ zwangsfusioniert wurde.

Diese erwarb dadurch zahlreiche Textilfabriken, darunter etliche in der Umgebung Marienthals. Um sich nicht selbst zu konkurrenzieren, wurde nun das Werk Marienthal stillgelegt, trotz seiner modernen Ausstattung und seiner über Generationen geschulten Textilarbeiterschaft.

Die Arbeitslosenkolonie Marienthal

Das fünfzehnköpfige Wiener Forschungsteam, welches vom November 1931 bis Mai 1932 unter Leitung von Paul Felix Lazarsfeld (1901–1976) die Folgen von Arbeitslosigkeit erforschte, fand hier eine menschlich tragische, wissenschaftlich aber ideale Laborsituation vor. Umfangreiche Erhebungen, wobei die spätere Pionierin der Pädagogik in Österreich Lotte Schenk-Danzinger (1905–1992) die Hauptarbeit der Feldforschung leistete, ermöglichten eine breite Quellenlage: etwa Kataster sämtlicher Haushalte, Inventare der Wohnungen und der Mahlzeiten, Interviews, eigens für das Projekt verfasste Schüleraufsätze. Die bei der Marienthal-Studie angewandte Kombination unterschiedlicher empirischer Methoden der Sozialwissenschaften erregte das Interesse der Wissenschaftswelt, die Ergebnisse der Studie aber sorgten für soziales wie politisches Aufsehen.

Unter den Schlussfolgerungen der Marienthal-Studie besaß jene der „müden Gemeinschaft“ besondere Brisanz: Die bei einem erheblichen Teil der Arbeitslosen festgestellte Resignation, Aktivitätsunfähigkeit und Überforderung durch erzwungenes Nichtstun sowie die im Zuge der Untersuchung festgestellte Entpolitisierung großer Teile der Arbeitslosen liefen der im sozialistischen Lager damals populären Idee des Arbeitslosen als eines revolutionären Subjekts zuwider.

Während nur knapp ein Viertel der Marienthaler Familien die Arbeitslosigkeit ungebrochen erlebten und ihren Alltag wie bisher zu bewältigen suchten, reagierten fast 70 Prozent mit Resignation; knapp ein Zehntel wurde sogar verzweifelt und apathisch.

Dies hatte natürlich enorme Auswirkungen auf das soziale wie politische Leben in der einstigen Arbeiter- und nunmehrigen Arbeitslosenkolonie. Das kulturelle Leben Marienthals war seit den 1860er Jahren durch Theater, Musik und Gesang geprägt. Für die frühe Arbeiterbühne Marienthal ließ die Fabrikleitung sogar einen eigenen Theatersaal errichten, in welchem nicht nur klassische Theaterstücke aufgeführt wurden, sondern auch Opern und Operetten. Nach Schließung der Fabrik brauchte es viele Jahre, bis diese kulturellen Traditionen wieder aufgenommen wurden. Auch der Sport, der nicht nur der körperlichen Ertüchtigung für die Fabrikarbeit diente, sondern der auch ein wichtiges Moment des sozialen Zusammenhalts darstellte, brach in den Zeiten der Arbeitslosigkeit ein. Noch stärker betroffen war das politische Leben, das sich dem Nullpunkt näherte. Das Verbot der Sozialdemokratie durch das Ständestaatregime nach dem Aufstand vom Februar 1934 zur Verteidigung der Demokratie in Österreich verstärkte diese Tendenz. So mag es wenig verwundern, dass die Arbeiterschaft Marienthals 1938 in Scharen zu den Nationalsozialisten überlief. Allerdings gab es in der Arbeiterkolonie auch bemerkenswerten und opferreichen, insbesondere durch Kommunisten organisierten Widerstand gegen den Faschismus.

Langes Intermezzo und industrieller Neuanfang

Wenige Wochen nach Stilllegung der Textilfabrik Marienthal 1930 wurde mit dem Abriss wichtiger Teile der Werkanlagen begonnen. Damit konnten in den verbliebenen Gebäuden nur mehr zwei kleine Nachfolgeunternehmen eröffnet werden: 1933 die „Vigogne-Spinnerei Walter Prade“ mit maximal 40 Beschäftigten und 1934 die „Frommengersche mechanische Weberei und Schlichterei Kurt Sonnenschein in  Mariental“ mit maximal 130 Beschäftigten. Die Fabrik von Kurt Sonnenschein wurde im Frühjahr 1939 „arisiert“, also geraubt, und zwar vom „Arisierungskönig“ Fritz Ries (1907–1977), über dessen berüchtigte Machenschaften der Schriftsteller Bernt Engelmann (1921–1994) den Schlüsselroman „Großes Bundesverdienstkreuz. Tatsachenroman“ (1974) verfasste. In den von Walter Prade nur gepachteten Fabrikgebäuden richtete die „Landwirtschaftliche Genossenschaft Gramatneusiedl“ 1939/40 ein Lagerhaus für Getreide sowie eine Reparaturwerkstätte für landwirtschaftliche Maschinen ein. Am 2. April 1945, in der Nacht vor der Befreiung Gramatneusiedls durch die Rote Armee, zündeten Angehörige der Deutschen Wehrmacht die Getreidelager an – die Vernichtung von Lebensmitteln für die Zivilbevölkerung war auch damals bereits ein Kriegsverbrechen –, das Feuer breitete sich unkontrolliert aus und brannte beinahe das gesamte Fabrikareal nieder. Dies ist der Grund, warum von der alten Textilfabrik fast nichts mehr erhalten ist. Die kleine Textilfabrik von Kurt Sonnenschein wurde zwar 1946 wieder in Betrieb genommen und später auch dem rechtmäßigen Eigentümer rückerstattet, doch das Werk, das 1958 vom Wiener Textilfabrikanten Justinian Karolyi übernommen wurde, musste 1961 stillgelegt und 1962 endgültig geschlossen werden.

1962 wurde auf dem Areal der ehemaligen Textilfabrik Marienthal das Acrylglaswerk „Para-Chemie“ eröffnet, gegründet vom Industriellen, Zeitungsherausgeber, Verleger und Filmproduzenten Ludwig Polsterer (1927–1979), der unter anderem durch den sogenannten Wiener Zeitungskrieg von 1958 bekannt wurde. Heute gehört das Unternehmen als „Evonik Para-Chemie GmbH“ zu den österreichischen Vorzeigeunternehmen, mit einer seit Jahrzehnten gleichbleibenden Anzahl von rund 200 Beschäftigten. Hier werden nicht nur Lärmschutzwände, bruchsichere Lichtkuppeln oder Küchenfronten entwickelt und produziert, sondern in Verbindung von Kunst und Industrie wurde hier beispielsweise die Fassade des Kunsthauses Graz (2003) gefertigt.

Das Wiedererwachen Marienthals

Jahrzehntelang blieb Marienthal in struktureller Rückständigkeit, und wichtige bauliche Zeugen des alten Marienthal wurden einfach abgerissen. Erst Ende der 1970er Jahren setzte ein Umdenken ein. Damals gab es auch das erste große Projekt in Nachfolge der Marienthal-Studie, „Marienthal 1930–1980“ von Michael Freund, János Marton und Birgit Flos (1979 bis 1982), und Karin Brandauer drehte 1987 ihren Film „Einstweilen wird es Mittag…“ vor Ort. Die Gemeinde Gramatneusiedl selbst entschloss sich zur Revitalisierung der heute unter Denkmalschutz stehenden Arbeitersiedlung Marienthal, welche 2002 abgeschlossen wurde. In diesem Jahr begann Reinhard Müller im Rahmen des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Universität Graz, sein Projekt Marienthal. Mittlerweile gibt es die Wanderausstellung „Rückblicke auf Marienthal“, eine umfangreiche Website (http://agso.uni-graz.at/marienthal/), eine Buchdokumentation (Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie. 2008) und einen Bildband (Mythos Marienthal. 2010), mehrere Radiosendungen und den 52-minütigen Dokumentarfilm „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Günter Kaindlstorfer.

Am 1. Oktober 2011 wurde das in Kooperation von Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich und Marktgemeinde Gramatneusiedl entstandene Museum Marienthal (http://agso.uni-graz.at/museum_marienthal/) eröffnet.

Dieses informiert nicht bloß über die Fabrik und Arbeiterkolonie Marienthal sowie über die Marienthal-Studie und deren Projektteam. Das Museum soll auch das Interesse an den Beziehungen zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit wecken bzw. verstärken, vor allem aber auch zeigen, dass Marienthal nicht nur ein Ort der Katastrophe ist – denn Arbeitslosigkeit gehört zusammen mit Kriegen und Umweltzerstörung zu den größten von Menschen verursachten Katastrophen. Das Museum soll auch das Wechselspiel von Arbeiter- und Unternehmerkultur demonstrieren und das Wissen um und das Bewusstsein für das Kulturerbe Marienthal bewahren, vielleicht auch erst wecken helfen.

Foto: Arbeitslose Marienthaler. 1932 © ASGÖ Graz

Reinhard Müller
Geb. 1954 in Burgau (Steiermark); Soziologe, Wissenschafts- und Anarchismushistoriker; seit 1987 beim Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich an der Universität Graz beschäftigt, 2002 Initiator und seitdem Leiter des Projekts Marienthal.

LitGes, etcetera 46/November 2011/arbeits-los