47/Pöbel/ Essay: Dornröschen. Emmahermine Schiene
Emmahermine Schiene
Dornröschen – oder: wie unser dummer Pöbel meint.
Über die Ungleichzeitigkeit in der Welt. Worauf es im Leben ankommt. Und warum. Ein Versuch. Ärger und Zeitdruck heißen die zwei klapprigen Gäule, die mein Gepäck und mich, meine Gedanken und Worte, zu dieser seltsamen Festung, genannt Themenvorgabe, bringen sollen. Zeitdruck ist mein privates Vergnügen. (Erfuhr ich doch erst drei Wochen vor Einreichschluss von der Möglichkeit an dieser Denk- bzw. Schreibpilgerschaft teilnehmen zu können, nur ein paar Stunden sind mir über - und doch kann ich es nicht sein lassen…) Aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Vielleicht hat mich deshalb rasch, noch während des Betrachtens dieser neuschwansteinhaft verschnörkelten Trutzburg aus korrekter Haltung und koketten Denkarabesken, der Ärger zu befallen begonnen. Noch im Verharren vor ihr, während des Abklopfen des Staubes, welcher mich auf der Tage Reisen in Form der sonstigen Denk- & Handlungsnotwendigkeiten bedeckte. Da schon hat sich meinem Erkennen, hinter diesem gleich mehrhundertjährigen dichten dornenreichen Gestrüpp aus falschen oder doch jedenfalls auf Abwege führende Denkbahnen, das Wesentliche herauszuschälen begonnen. (Für jene, die nichts vom gegebenen Thema, von der hinleitenden Vorgabe wissen: Um den Pöbel, die Masse, welche oft für dumm gesetzt, um das Herkommen des einleitenden Zitates, welches aus einem Musikstück Glucks entnommen, das wiederum in seinem Zeitgeist westliche Sehnsüchte nach dem Orient verkörpere, und so einen Verweis ins Heute lege, zum arabischen Frühling, zur Weltwirtschaftskrise, zur Xenophobie, zur Bürgerbeteiligung - und so in etwa, kreist die vorgehängte Themenkarotte für den / die SchreiberIn.)
Der Pöbel also. Der Dumme. Der Pöbel nimmt wie vermutlich bekannt auf „populus“, also Volk Bezug. Und dumm, weil das Gegenteil von „klug“ – also Elite, also Zugang zu Bildung gehabt haben können. Und schon ist elegantes Abbiegen zum schillernden Begriff Masse möglich. (Warum formale Bildung ein prekäres gesellschaftliches Gut ist, ist hier nicht Thema.) „Die Masse also, wenn sie sich, wehe! in Bewegung setzt.“ Fürwahr! Aber, vielleicht anders als es hier angedacht war? Bei Masse fällt mir übrigens sogleich Menasse ein. Robert Menasse, welcher sich (und welchen ich als Schreiber schätze), nachdem er zuerst ein leidenschaftlicher EU-Basher war, nunmehr, nach dem er sich in die Materie einarbeitet, zum glühenden EU-Befürworter gewandelt hat. Ein prominentes - also öffentliches - Beispiel für Meinungsbildung, deren Qualität und deren Vertretungsvehemenz. Und ein gutes Beispiel, um die Problematik von Masse, nämlich deren Zusammensetzung aus Individuen und deren je ureigensten Motivationen exemplarisch zu veranschaulichen. Also, wer oder was ist „Masse“, und warum ist sie, wie sie ist? Ich will es im Folgenden bei einer locker leichten freihändigen Abhandlungsweise, einem Erörtern anhand mancher durch dieses Thema induzierten Gedanken belassen. Eine baiserhafte Glosse, wenn Sie so wollen ( - Sie wissen, die Zeitnot.):
Man nehme also – die Masse. Die Masse, so meine ich, besteht aus etwas. Eine Baisermasse aus Eiweiß und Zucker.
Jedenfalls. Die Menschenmasse, um die es sich hier wohl handelt, richtig – aus Menschen. Menschen, also Individuen, sind in sozialen Kontexten sozialisiert, in individuellen Kontexten psychisch geprägt. Das heißt, ihre intrinsischen Motive speisen sich zu einem Großteil aus mehr oder weniger hinterfragten WERTEN. Und diese Werte wiederum, es liegt ja schon im Wort, sind etwas wert. Das heißt, sie sind affektiv besetzt. Affekte sind die stärksten Motivatoren der Menschen. Für diese sind wir im Extremfall bereit zu töten. (Im Glücklichen – zu lieben.) Nun sind also, je weniger Menschen reflektiert sind über ihre Grundlagen / Werte, und das sind nun einmal die Meisten, sie die Menschen, über diese Affekte nicht nur manipulierbar, sondern PER SE so etwas wie eine psycho-soziale Bombe, die jederzeit hochgehen kann. (Und selbst jene, die sich viele Jahre schon um eine Bewusstwerdung bemühen, sind, wenn es darauf ankommt, also wenn sie wirklich an ihren wunden Stellen [und diese können überraschend und beschämend banal sein] berührt werden, kaum in der Lage zuerst einmal möglichst vernünftig zu handeln. Ich bestätige Ihnen das aus eigener Empirie. Falls das für Sie nicht zutreffen sollte.) Wie es so schön heißt, „die Schicht der Zivilisation ist dünn“. Und da gehen wir einmal davon aus, dass es eine solche gibt. Eine „Schicht der Zivilisation“, diese, welche wesentlich durch soziale Ordnungsstrukturen, seien sie clan- oder staatsinduziert, befördert wird. Weshalb das Zusammenbrechen oder vorsätzliche Zerstören auch zumeist Gräuel nach sich zieht. Und weshalb man bei „Maßnahmen“, die man glaubt setzen zu müssen, oder sie unterstützen zu müssen, einigermaßen durchdacht herangehen sollte. (Ich meine, nur ein Beispiel, dass jeder halbwegs begabte Absolvent der Politikwissenschaft mit mehr Verstand an das Thema Irak herangehen hätte müssen als G W Bush. Ordnungsstrukturen zu zerstören, und nicht dafür Sorge zu tragen, dass diese durch andere / bessere ersetzt werden, ist fahrlässig – quasi vorsätzlicher, weil vorhersehbarer - Mord an Zivilisten!)
Von unüberschaubarer Zahl sind die Beispiele für die unglücksbringenden siamesischen Zwillinge Masse & Gewalt. Denn, Affekte haben nämlich auch noch die Tendenz, sich verschieben zu lassen. Aggression und Liebe muss / kann nicht immer dort zurück / wirken, wo sie entsteht, sie lässt sich auch auf andere Objekte / Ziele transformieren und gar manipulieren. Der Mensch in der Menge, der Masse, scheint zusätzlich noch nach eigenen Gesetzlichkeiten zu handeln. Es gibt, wie wohl bekannt, Diverses zum Thema Massenpsychologie. Somit: Ich jedenfalls wünsche mir das nicht, dass „sie sich in Bewegung setzt“, die Masse. Ich plädiere für ein in Bewegungsetzen von Individuen. Aber, siehe oben, auch mit den Individuen ist das so eine Sache. Wofür und Wogegen und Warum ist das Individuum, das dafür undoder dagegen ist, so wie es ist? (Zusätzlich noch: Wer ist denn dieses Individuum? Weil vom Formieren, von Parteien die Rede. … dazu gleich.) Wofür oder wogegen Individuen so sind, ist – ich bestehe darauf! - im klaren Gegensatz zur „rational choice theorie“ - ist mitnichten ein rationaler Prozess!
Oder, jedenfalls nur insofern, als er innerhalb der im jeweiligen Individuum gesetzten / vorhandenen Auswahlkriterien getätigt werden kann. Da ich weder eine komplexe Darstellung zu den Verkettungen von Wirtschaftssystemen, Krisen von solchen, Unterstützung von Regimen aufgrund Interessenslagen, Konflikten in „Hinterhöfen“ von Großmächten, sozialen Paradigmen (Konkurrenzdenken, Konsumismus), dem offenbar tief verankerten Bedürfnis der Menschen nach sozialer Distinktion, oder der Angst vor „dem Anderen“, Vorstellungen / Entwicklungen zu Sexualmoral, Ästhetischem Empfinden, etc, etc geben kann und will, bescheide ich mich - und kürze hier ab! Aber ich halte ganz explizit fest, dass „ob und inwieweit ein Mensch, die Menschen sich für oder gegen etwas entscheiden können, zu existentiellen Teilen an einer gelungenen Sozialisation, an einer Befähigung sich zu informieren, zu erkennen, zu urteilen, sowie im Vermögen um seine eigenen Emotionen und deren Grundlagen zu wissen“ steht oder fällt. Und dies ist – immer noch - eine zentrale Herausforderung an die Gesellschaft im Gesamten und an jeden Einzelnen an dem Ort, wo er / sie sich befindet, dafür Mitverantwortung zu übernehmen, dass diese Befähigungen sich entwickeln können.
So, jetzt bin ich soweit, dass ich Ihnen erklären kann, was das konkret Ärgerliche im Kontext dieser Themenpotpourri, meiner Interpretation nach, ist. Die angeführten Beispiele der Selbstermächtigung – im Neusprech: „Gründen sozialer Netzwerke“ welcher Art auch immer (Parteien, Revolutionen, Hacker, …) - gehen a) immer von Individuen und b)! immer von Individuen, die GERADE NICHT für die Masse stehen, aus. Außer, eine andere Bedeutung von Masse war gemeint gewesen. Jene, die für soziale Bewegungen steht.
Aber auch dann sind es Individuen, ist es das reflektierende Individuum, das erkennt, und das handelnd einsteht für dieses Erkennen. Das sich und die Folgen seines Handelns immer wieder unter dem Aspekt der Folgen überprüft. Das weiß, warum es denkt, wie es denkt, tut, was es tut – und es auch darlegen kann. Und zwar innerhalb eines Wertekanons, der gemeinhin als humanistisch bezeichnet werden kann. (Nein, leider, ich habe auch keine letztschlüssige, kurze & prägnante neue Ethik zitierbar zur Hand. Deshalb nehme ich auf diesen Begriff Rekurs.) Ja, ich bin vorsichtig, ja skeptisch gegenüber einem blauäugigen Vertrauen in das Gute im Schlichten. Sozusagen. Ja womöglich: um so schlichterer um so guterer. Nein, ich glaube, dass der Mensch nicht umhinkommt sich anzustrengen. Und dass die „einfachen Leut`“ um nichts „besser“ sind, als die „Besseren“. Umgekehrt selbstverständlich auch nicht!!!
Und Sozialromantik geht mir genauso auf die Nerven wie Sozialdarwinismus. Oder wie es so schön heißt: „Ja, es gibt auf jede (komplizierte) Frage eine einfache Antwort. – Aber meistens ist sie falsch!“ Und so wird es sich wohl auch hinsichtlich des Anspruchs an gesellschaftliche Veränderungen, dessen TrägerInnen, verhalten. Ambiguitätstoleranz – also die Fähigkeit, Vieldeutigkeit, Unsicherheit und Widersprüchlichkeit zur Kenntnis zu nehmen und ertragen zu können, und nicht etwas entweder vorbehaltslos für gut oder grundsätzlich für schlecht zu erklären, ist eine Kompetenz, welche äußerst spärlich zu finden ist. Kommt mir vor. Aber vielleicht fehlt mir einfach nur das Eindimensionaldenkenkönnengen.
Und der hier konkret gegebene Themenansatz, die für mich durch ihn zum Ausdruck kommende dahinter stehende Haltung, stellt eben für mich auch so eine Denk- und Wahrnehmungsunschärfe dar. Ärgerlich - und auch in KEINER Sache hilfreich...
Wohingegen der oben angeführte Herr Menasse mich nicht verärgert hat durch sein Umschwenken. Erstaunt schon. Verblüfft auch. (Gut, zugegeben, sein letzter Spektrumbeitrag war schon ein bisschen zum Ärgern. So selbstverliebt und flach. Aber jetzt sind wir quitt. Mit diesem meinen Text.) Zuerst fragte ich mich, wie er, ich war „dank“ meines Politikwissenschaftsstudiums doch etwas eingelesen in die EU-Materie, wie er also denn gar so giftig und unsachlich aber mit Überzeugung rundumspucken konnte.
Dann sah ich eine Differenzierung im Denken, und dachte – „sieh an!“. „Aber geniert er sich jetzt nicht etwas. Und inwieweit ist das Erkennen von Erkennen einem Charakter dienlich. Verleiht ihm womöglich Tiefe?“ Das können nur jene beurteilen, die ihn kennen. Jedenfalls, so meine ich, ist er ja kein Dümmling. Und sein öffentliches Wandeln und Auftreten erlaube ich mir in diesem Kontext als Fallbeispiel per se von Meinungsbildung und Meinungsvertreten beim homo sapiens sapiens in einer seiner schönsten und angenehmsten Formen vorzuführen - und mir damit einen hübschen Abgang. Er, der Meinungsbildungsprozess, geschah und geschieht immerhin auf literarischem Niveau. Unblutig sowieso. Würde es nur immer, in jedem Belang und auf der ganzen Welt so zugehen. Die Zeitungen würden prosperieren.
Die LesebrillenherstellerInnen expandieren. Die Menschen sprächen und schrieben, bis sie vor Erschöpfung einschliefen. Oder von geistiger Vereinigung und Lust überwältigt ins Fleischliche überwechselten. Keiner würde mehr Steine werfen. Niemand mehr zu Tode kommen, sei es durch Waffen oder Verhungern. Sie sehen, auch ich bin eine gesellschaftsromantische Person, irgendwie. Aber, wenn sie jetzt zurecht fragen, was hat das mit der an den Anfang gestellten Ungleichzeitigkeit in der Welt, worauf es im Leben ankommt und warum, zu tun, antworte ich: Nun, festzustellen, dass Entwicklungen, Befindlichkeiten und Annahmen über diese Welt unterschiedlich, also ungleichzeitig sind, und dass das an sich nicht schlecht sein muss, wäre schon einmal ein guter Ansatz. Dass Dinge / Bedingungen zu verhandeln sind, wäre eine gute Strategie. Worauf es ankommt? Sich weniger den Schädel einschlagen zu müssen! Und zu begreifen, dass der Sinn des Lebens genau darin besteht: Das Leben mit Anstand zu bewältigen. Oder wie meine 91jährige Großmutter doziert: „Der Sinn des Lebens?
Der Sinn des Lebens ist das Leben!“ Und Sie wissen doch, nach dem Erwachen des gesamten Hofstaates aus dem 100jährigen Schlaf, verursacht durch des Prinzen Dornenheckendurchdringung, gab es für den Küchenjungen zuerst einmal eine Ohrfeige. Dann aber nahm alles seinen gewohnten Lauf. Ob ich mir durch mein Zetern Ohrfeigen einhandle, einen Stein in der Mauer Ihres Denkens lockern durfte, oder alles einfach nur weitergeht wie bisher? Ich setze aufs Letzte, sattle meine Gäule Zeitdruck und Ärger, ziehe meinen Hut und wandere weiter.
Emmahermine Schiene
Geb. in den mittleren Lagen der 60iger Jahre im schönen grauen Wien. Sozialisiert in kleinbürgerliche Verhältnisse. Schulabbrecherin, Vierfachmutter, ausübende diverser ungelernter Berufe. Studium der Politikwissenschaften. Lohnkutscherin, Teilzeithobbydenkerin, kokette Wortschleudermaschine.