47/Pöbel/ Essay: Kindheit in Österreich. Peter Kaiser

Peter Kaiser
Kindheit in Österreich

Ein Plädoyer für den großen Kindheitsroman im Allgemeinen und Die Voest-Kinder von Elisabeth Reichart im Speziellen.

Die Wiener Tante des Mädchens, die so genannte Akrobatin, hat eine eigene Methode mit der Unbändigkeit ihres Sohnes umzugehen. Man nehme einen Kübel voll mit Wasser und stecke den Kopf des Kindes so lange hinein, bis die Dummheit aus ihm heraus rinnt.

Plötzlich bekommt der Wasserkübel in der Küche zuhause für das Mädchen eine neue Bedeutung und die von ihr verzweifelt geliebte Mutter scheint ernsthaft zu überlegen… All die Ermahnungen, die Bezichtigungen und die Watschen, das alles hat nichts genützt, um dem Mädchen ihre Fantasie, ihre Traumwelt, ihren Wahnsinn, auszutreiben. Sie ist wilder als zehn Buben! Aber dabei wollten die Eltern doch einen Buben. Wer soll das verstehen? Ein Kind? Erziehung mit widersprüchlichen Aussagen ist auch eine Form der schwarzen Pädagogik.

Aber es kommt noch schlimmer. Die katholische Kirche trägt ihren Teil bei. Jesus und die Apostel waren Juden, und Juden haben Jesus ermordet, also hätten alle Juden vergast werden müssen, oder wollen Sie einen Juden als Nachbarn?

Aber Jesus war doch auch…

Vorweg: Wir begleiten die namenlose Familie und das namenlose Mädchen von deren zweiten oder dritten Lebensjahr an bis ans Ende ihrer Volksschulzeit, wo die Lehrerin sie plötzlich zu schikanieren beginnt, weil sie ein Brüderchen bekommen hat, das anders ist als die Kinder in der Wildnis, der neu gebauten Voest-Arbeitersiedlung.

Diese österreichische (Nachkriegs-) Geschichte beginnt in der Vorstadt. In einer Wohnung, wo noch getanzt und musiziert wird. Die Großeltern sind in Reichweite. Auch die Wiener Tante. Leider.

Die österreichischen Gebräuche und Traditionen sind schwer zu verstehen, vor allem für ein Mädchen, das in dieser Welt nicht sehr viel zu gelten scheint.

Fragen sind nicht erwünscht und die Wahrheit verlauten zu lassen schon gar nicht.

Außer man wird zur Sünderin, als welche sich das Mädchen nach bildendem Kirchenbesuch schon bald selbst bezeichnet.

Glück gibt es am Bauch des Hundes Baldo und im Garten der Großeltern, der von Feen und Kobolden besiedelt ist. Aber eigentlich scheint in der Menschenwelt kein Platz zu sein für ein intelligentes, lebendiges und fantasiebegabtes Kind (welches Kind wäre das nicht, wenn man es ließe?), in dem die Eltern nichts als ihre eigenen ungelebten und verschütteten Träume wieder finden und das Kind genau deswegen ständig quälen. Oder ist es schlicht und einfach die Intelligenz, welche wir abgestumpften und vom Jahrtausende alten Aberglauben verblödeten Erwachsenen den Kindern nicht verzeihen können?

Doch in der elterlichen Vorstadtwohnung kann man trotz Musik scheinbar nicht glücklich sein und so wird später in ein Reihenhaus übersiedelt. Aber zuerst müssen die Instrumente verkauft werden, und auch das Schaukelpferd des Mädchens und deren Puppenhaus, welches der geliebte Großvater geschnitzt hat.

Das muss sein. Damit man in Zukunft glücklich sein kann, müssen jetzt Opfer gebracht werden!

Glück! In einer Siedlung mit den Arbeitern der Herrmann-Göring-Werke, pardon, Voest, und deren Kindern. Da wird auch kein Platz sein für ein Zigeunerbarackenlager in unmittelbarer Nachbarschaft. Ein paar von den Zigeunern sind scheinbar damals entwischt. Sie sind zwar verstummt, aber Angst herrscht jetzt erst recht vor ihnen. Die Zigeuner sind nämlich auch so etwas wie Juden, schlimmer noch, denn sie essen kleine Kinder. Dabei ist der erste Bub, der das Mädchen ernst nimmt, der ihr Schwimmen beibringt, während der verzweifelt geliebte Vati sie auslacht, ein Zigeuner. Wird er sie essen? … und in dieser Siedlung mit lauter gleichaussehenden Häusern soll ausreichend Platz für das individuelle Glück sein. Ein schwer bezahltes Glück jedenfalls! Elisabeth Reichart schrieb mit Die Voest-Kinder eine klassische Kindheitsgeschichte, welche die österreichische Arbeitergesellschaft der Nachkriegszeit widerspiegelt. Ob dieses Werk autobiografische Züge beinhaltet, ist zur Beurteilung unerheblich. Fakt ist eine authentische Erzählweise, die schlüssig ist und für unzählige Kinder ihre Gültigkeit hat.

So reihen sich Die Voest-Kinder in die große österreichische literarische Tradition des Schreckens, wie man sie in Franz Innerhofers Schöne Tage, in Gernot Wolfgrubers Herrenjahre oder in Thomas Bernhards großer Autobiografie, sowie auch bei Josef Winkler wieder findet. Elisabeth Reichart wurde 1953 in Steyregg in Oberösterreich geboren. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Salzburg. Ihre schriftstellerische Tätigkeit umfasst alle literarischen Gattungen. Die oftmals wiederkehrenden Themen sind feministischer, sprachwissenschaftlicher Natur und, wie hier, die Prägungen durch und die Verdrängung unserer nationalsozialistischen Vergangenheit. Vielleicht wäre Reicharts Buch, würde es in der Gegenwart angesiedelt sein, keines, das die offensichtliche Brutalität sondern eines, das die Verwahrlosung zum Thema machen würde. Gegen die fröhliche Anarchie der Kinder sind wir Erwachsenen jedenfalls nach wie vor ausnahmslos Faschisten. Dabei haben Eltern den größtmöglichen Startvorteil für ihre Erziehung: Sie werden von den Sprösslingen vom Anbeginn bedingungslos geliebt und - leider auch nachgeahmt!

Wie stark die Identifizierung des Mädchens mit dem unerreichbaren Vater ist, wird im Weiterträumen der Vaterträume sichtbar. Dessen Traumbild seit frühester Jugend ist Afrika. Und obwohl das dem Mädchen nicht dezidiert klar sein kann, wächst in ihr ein unerklärliches Faible für diesen Kontinent mit seiner fantastischen Tierwelt. Schließlich wird der Vater sich im Dienste des feuerspeienden Drachens Voest auf den Weg machen…

Der Zurückgelassenen bleibt nur der Trost und der Zuspruch der geliebten Großmutter. Die Aufgabe des Kindes wird sein, die eigenen Wünsche zu erkennen und verwirklichen zu wollen.

Eine glückliche Kindheit in Geborgenheit und Liebe, wie sie der französische Schriftsteller Marcel Pagnol (1895-1974) in seiner autobiografischen Romantrilogie Eine Kindheit in der Provence (1957-1959) beschreibt, die im Übrigen noch heute in den französischen Schulen zur Pflichtlektüre gehört, scheint im geschrumpften Österreich des 20. Jahrhunderts nicht vorzukommen. Die Erzählungen des steirischen Waldbauernbuben Peter Rosegger aus den Jahren 1875 und 1877 muten dagegen wie klischeehafte Heimatromane an. Die Frage drängt sich auf, ob eine schöne Kindheit in Österreich möglich ist, wenn sie in der Literatur nicht vorkommt? Man denke an Clemens J. Setz’ jüngst erschienen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes (Suhrkamp, 2011) oder an Gustav Ernsts Beste Beziehungen (Haymon, 2011), die jeweils ein literarisches Musterexemplar dafür abgeben, dass es in der österreichischen Gesellschaft schwer möglich ist, als glücklicher und normaler Mensch heranzuwachsen.

Die Voest-Kinder sind jedenfalls poetisch und einfühlsam geschrieben und führt uns in unsere längst vergessene und verdrängte Kindheitswelt, mit all ihren kleinen Träumen (Afrika!) und all den großen Ängsten. Die Träume, bei Reichart und ihren Voest-Kindern exemplarisch, sind spätestens mit Schulbeginn ausgeträumt. Wir beginnen endgültig zu begreifen, dass es nicht um unsere Wünsche, sondern um Anpassung geht. Die anerzogenen Ängste begleiten uns manchmal ein Leben lang, lange genug auf jeden Fall, damit wir sie rechtzeitig an unsere Kinder weitergeben können.

 

Elisabeth Reichart: Die Voest-Kinder. Siehe Rezension Eva Riebler

Peter Kaiser
Geb. 1968 in St. Pölten. Gelernter Buchhändler, heute Selbstständiger mit Hang zum Universal-Dilettantismus.