50/Wozu Literatur?/Essay: Die wahren Schätze oder Was soll da noch Literatur? Andreas Tiefenbacher

Andreas Tiefenbacher
Die wahren Schätze oder Was soll da noch Literatur?
Eine Oberflächenbetrachtung

Wenn niemand das Interesse hätte, ein Buch zu lesen, gäbe es wohl weder Buchhandlungen noch Bibliotheken, keine Verlage, keine Autorinnen und Autoren, keine Literatur.

Glücklicherweise gibt es dieses Interesse aber. Es beschränkt sich zwar auf ein paar wenige Prozent der Bevölkerung, doch es existiert. Natürlich hat es ein wenig mit Luxus zu tun, wenn man über Zeit verfügt, die man ausschließlich dem Lesen widmen kann. Viele Menschen haben so eine Zeit nicht. Andere wollen sich diese nicht gönnen. Und wieder andere befinden sich durch immer prekärer werdende Arbeitsverhältnisse in einem Zustand, den man, weil er hauptsächlich von Erschöpfung und materieller Armut geprägt ist, als lesefeindlich betrachten kann.

Klarerweise stellt sich beim Lesen die Sinnfrage. Schließlich kostet es Zeit. Und Zeit scheinen die Menschen immer weniger zu haben. Und wenn, wollen sie lieber in Aktion sein, sich bewegen, Spaß haben, was sie nicht unbedingt mit einem rechteckigen Papierklotz in der Hand verbinden. Den meisten Menschen gibt es nichts, auf einem Kanapee im Arbeitszimmer, einer Bank im Park oder gar auf der Wiese liegend ein Buch in Händen zu halten und zu lesen. Außerdem hält Lesen doch von der Arbeit ab. Trotzdem sagt jeder:

Lesen ist wichtig! Denn wohin man schaut: Überall ist Text, und wenn es bloß Gratiszeitungen und Werbeprospekte sind.

Mit unseren Lesefähigkeiten steht es allerdings dennoch nicht sonderlich gut. „Jeder 4. kann nicht lesen“ verkündet eine österreichische Zeitung und schließt an diese Schlagzeile einen kurzen Bericht über die Leseschwäche von Jugendlichen an. Aus der dazugehörenden Statistik erfährt man, dass es 27,5% sind, die Probleme beim Lesen haben.

Im EU-weiten Ländervergleich ergibt das den nach Bulgarien und Rumänien drittschlechtesten Wert.

Dafür müsste man sich eigentlich schämen. Andererseits braucht man aber auch nicht alles für voll nehmen, was in der Zeitung steht, selbst wenn extra darauf hingewiesen wird, dass es sich um eine „EU-Studie“ handelt. Immerhin wird in diesem Artikel nicht einmal angegeben, was mit Lesen genau gemeint ist. Versteht man darunter jetzt nur das richtige Zusammenlauten der Buchstaben? Oder wird auch die Sinnerfassung miteinbezogen? Und ist es nun egal, ob ich weiß, was die Wörter bedeuten, die ich lese? Oder nicht?

Auf jeden Fall findet sich in dem Artikel dieses so genannten Massenblattes kein Hinweis darauf. Wahrscheinlich auch deshalb, weil Artikel in so einer Zeitung nicht zu lang werden dürfen. Da gibt es genaue Richtlinien, darf eine gewisse kleine Zeichenanzahl nicht überschritten werden. Auch, weil es für die Leserinnen und Leser dann zu anstrengend wird. Weniger, weil sie eine Leseschwäche haben und nicht sonderlich gut darin sind, sinnerfassend zu lesen, sondern vielmehr darum, weil Lesen müde macht. Lesen ist nämlich schlecht für die Augen. Zumindest hat man das früher einmal behauptet, woran sich auch der Privatdetektiv-Brenner-Erfinder Wolf Haas gut erinnern kann. Er findet sogar, dass Lesen nichts anderes ist als Computerspielen und schlussfolgert daraus, dass der „Aspekt des Ungesunden, den man dem Computerspielen unterstellt“ auch fürs Lesen gilt.

Sport ist eindeutig gesünder. Und doch wird hierzulande leider auch ihm viel zu wenig Bedeutung beigemessen. Das spiegelt die Medaillenbilanz der österreichischen Sommersportler bei den Olympischen Spielen in London wieder: Kein einziges Edelmetall für Österreich. Dafür aber hinterher ein Aufschrei in den Medien und wilde Debatten, dass eine tägliche Turnstunde in der Unterrichtsplanung unabdingbar sei.

Turnen ist wichtig, keine Frage. Dabei bewegt man nämlich nicht bloß den Kopf, sondern den ganzen Körper. Lesen ist hingegen nur „Abenteuer im Kopf“, wie ein entsprechender Slogan zu vermitteln versucht. Beansprucht wird neben einem Bereich des Gehirns dabei höchstens noch die Armmuskulatur.

Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Lesen wunderbar an der frischen Luft (am Strand, im Wald, auf der Terrasse im Liegestuhl) praktizierbar ist. Der ungesunde Aspekt (Anstrengung für die Augen) wird durch die positiven Effekte (Freude, Entspannung, Förderung von Intellekt, Kreativität und Meinungsbildung) weitum wettgemacht. Und was wäre Lesen ohne Literatur? Nur ein halbes Vergnügen.

Das Traurige daran ist, dass die Aufnahmekapazitäten eines Menschen beschränkt sind, genauso wie die Faktoren Lesezeit und Lesegeschwindigkeit. So schnell lesen wie Autofahren geht leider nicht. Mit 150 km/h sausen die Augen eher nicht durch ein Buch. Eine Vielleserin beziehungsweise ein Vielleser, die beziehungsweise der über eine Zeitspanne von 60 Jahren ein Buch pro Woche schafft, kommt auf 3120 gelesene Exemplare. Eine Profileserin beziehungsweise ein Profileser mit zwei bis drei gelesenen Büchern pro Woche ist auch noch vorstellbar. Aber auch er beziehungsweise sie kommt vielleicht auf summa summarum 9000 Stück.

Das klingt im ersten Moment viel, wenn man bedenkt wie viele Kisten diese Bücher füllen würden. Doch zieht man in Betracht, dass jährlich mehr als 90.000 Neuerscheinungen auf den deutschsprachigen Markt kommen, ist diese Zahl bescheiden. Als Konsument steht man hier sowieso auf verlorenem Posten: die Auswahl ist zu groß, der Markt kaum überschaubar. Und doch trifft man in den großen Buchkaufhäusern auf das mehr oder weniger gleiche Angebot. Bücher aus Klein- und Kleinstverlagen befinden sich nur marginal im Sortiment. Denn diese Verlage verfügen über wenig bis gar kein Werbebudget, um auf ihr Programm aufmerksam zu machen. Erschwerend kommt hinzu, dass alle (sagen wir) namhaften österreichischen Zeitungen, die so etwas Ähnliches wie ein Feuilleton haben, auf ihren spärlichen Rezensionsseiten die immer gleichen paar Dutzend Autorinnen und Autoren präsentieren, was auf die Dauer nicht nur langweilig wird, sondern eigentlich auch ziemlich dekadent ist. Und wenn schon einmal von einer Neuentdeckung die Rede ist, zeigt sich schnell, dass diese genauso abgelutscht ist wie das bereits vorhandene Repertoire. Literatur ist in Österreich ein abgekartetes Spiel, bei dem ein ziemlich großer Haufen von Autorinnen und Autoren nicht zum Zug kommt. Ihre Bücher werden einfach übersehen, auch wenn sie mindestens so gut sind wie die meisten durch die österreichische Medienlandschaft tingelnden Bücher. Ihr Pech ist, dass sie in keinem jener Verlage zu finden sind, die sich im großen Förderungstopf tummeln. Das ist Manko genug. Sie brauchen daher Glück oder Vitamin B. Hat man keines von beiden, ist man in der Literaturbranche chancenlos. Und dann kommt noch ein wesentlicher Punkt hinzu: Wer zeigt dafür schon Interesse, wo es Internet gibt und weit über hundert Fernsehprogramme und Musik an jeder Ecke. Reizüberflutung genug! Was soll da noch Literatur? Und trotzdem: Sie wird von idealistisch veranlagten Menschinnen und Menschen mit großem Einsatz gegen die Leseunlust auf hohem Niveau produziert und verbreitet, auch wenn sie von kaum jemandem wahrgenommen und von noch wenigeren gelesen wird. Gelesen wird das, was auf diesen komischen Bestsellerlisten steht: hochgepushte, schmackhaft zubereitete Massenware. Die wahren Schätze findet man hier aber nicht! Die meisten liegen im Verborgenen und harren ihrer Entdeckung.

Also! Da gibt es einiges zu tun.

Andreas Tiefenbacher
Geb. 1961 in Bad-Ischl, lebt als Literaturkritiker, Autor, Sozialpädagoge und Betriebsratsvorsitzender in Bad-Goisern, Traismauer und Wien. Talentförderungsprämie OÖ 1996, Ernst Koref-Preis 2005, Mira Lobe-Stipendium 2008. Werke: „Der Möchtler“ 1995; „Herzkot“ 1997; „Christbaumcrash“ 2012.

LitGes, etcetera Nr 50/ Wozu Literatur?/ November 2012