50/Wozu Literatur?/Essay: Literatur – ein menschliches Grundbedürfnis. Jan-Eike Hornauer

Jan-Eike Hornauer
Literatur – ein menschliches Grundbedürfnis

»Wozu Literatur?« Diese Frage stellt ausgerechnet eine Literaturzeitschrift. Stellt sie sich damit selbst infrage? Ein Stück weit schon, doch nicht ernstlich, eigentlich heischt sie nur nach Existenzberechtigungsantworten. Doch kann man ihr das vorwerfen? Schwerlich, denn was hier angestrebt wird, ist das durch alle gesellschaftlichen Bereiche und alle Zeiten Übliche. Dazu kommt: Wo sonst sollte diese Frage ernstlich diskutiert werden, wenn nicht im literarischen Bereich selbst, dort also, wo man eine profunde Kenntnis der Materie sowie ein Mindestmaß an kritischem Reflexionsvermögen voraussetzen kann oder zumindest können sollte? Auch in diesem Punkt wird mithin lediglich der – übrigens durchaus sinnvollen – gesellschaftlichen Norm gefolgt.

Wer die Frage »Wozu Literatur?« also als verzweifelten Aufruf eines überflüssigen Bereiches interpretiert, Propaganda-Schriften zu verfertigen, um dem Sinnlosen den Anschein des Sinnhaften zu geben, geht fehl. Ebenso wie jener, der in ihr nichts weiter sieht als Selbstzweifel und Verunsicherung. Vielmehr ist sie der Ausdruck kritischen Selbstbewusstseins: Diese Literaturzeitschrift weiß um die unbestreitbare Wichtigkeit ihres Arbeitsfeldes, weiß aber auch, dass um die genaue Definition, worin diese nun wiederum besteht, ein permanentes Ringen stattfinden kann und muss. Das Eigentümliche an Literatur ist schließlich: In jedem Volk und in allen Zeiten gab es Literatur, gibt es sie, wird es sie – aller Voraussicht nach – geben. Ihre Existenz ist ganz offenkundig nicht an eine bestimmte kulturelle Ausprägung gebunden, nur ihre genaue Gestalt ist es. Damit scheint bewiesen, dass sie, wie auch die anderen Kunstrichtungen, also bildende Kunst und Musik, dem Menschen eine unabdingbare Notwendigkeit ist. Die Antwort auf die Frage »Wozu Literatur?« ist also denkbar einfach: Weil sie gebraucht wird.

Eine klare, eindeutige, praktisch unangreifbare Feststellung. Doch ist sie auch befriedigend? Nicht wirklich. Denn viele Fragen sind damit noch offen: Wieso wird sie gebraucht, was ist das Motiv? Und gibt es überhaupt ein einziges? Und wo beginnt und wo endet eigentlich Literatur? Sind Theater und Film ihr noch zuzurechnen oder nicht? Ist nur Anspruchsvolles Literatur oder fällt auch niederster Unterhaltungsmumpitz darunter? Und muss die Wichtigkeit für jeden einzelnen Menschen gegeben sein oder nur für die jeweilige (Teil-)Gesellschaft insgesamt? All das kann und muss diskutiert werden. Hier wird davon ausgegangen, dass alle Erzählung, gleich welcher Form und Qualität, Literatur ist. Was folgerichtig auch bedeutet, dass jeder Mensch, selbst wenn er dies gar nicht anerkennt, von Literatur betroffen ist: Auch wer nicht liest, ist mit Erzähltem und szenisch Dargestelltem, das über seinen eigenen gelebten Alltag hinausweist, zwingend konfrontiert, mittelbar ebenso wie unmittelbar, und das im Grunde permanent, da es nicht nur in der Sekunde des Erzählens wirkt, sondern auch noch im Nachhinein. Die erzählte Welt durchdringt die Alltagswelt – und wird freilich auch zugleich von ihr durchdrungen.

Literatur ist also notwendig und nicht nur in der Makro-, sondern auch in der Mikroperspektive allgegenwärtig. Sie umgibt uns, und sie ist in uns. Es liegt auf der Hand, dass diese Omnipräsenz nicht folgenlos bleiben kann, und zugleich ist eindeutig, dass sie nur einen Nachhall in uns findet und unablässig von uns produziert wird, da sie für uns von Relevanz ist.

Diese Relevanz wiederum kann unterschiedlicher Natur sein: Welterkenntnis, Lebensbewältigung, Ablenkung sowie Aus- und Erleben von Emotionen sind einige der wichtigsten Funktionen von Literatur. Selbstredend werden sie nicht in jedem Stück Literatur gleichberechtigt behandelt, die Gewichtungen sind hochunterschiedlich. Dabei aber kommt es nie zu einer völligen Trennung der Funktionen, sie werden stets alle bedient: Auch die hemmungslose Schnulze spielt, zumindest subversiv rollenprägend und dergleichen, in den Bereich Welterkenntnis mit hinein (wenngleich dies ggf. dazu einlädt, eher von Weltverzerrung zu sprechen – doch sollte man hier vorsichtig sein, denn ist Welterkenntnis nicht im Grunde unmöglich, wenn auch unbedingt anzustreben?), auch ein trauriger Text, der sich mit Problemen auseinandersetzt, die seinen Leser selbst gerade in dessen Leben plagen, dient immer noch ein Stück weit der Ablenkung und Erholung – wer sich auf einen Text konzentriert, konzentriert sich zwangsläufig weniger intensiv auf sich selbst.

Quasi ganz nebenbei beantwortet sich damit auch die Frage der Existenzberechtigung der einzelnen Literaturarten im Sinne von hoher Literatur und Unterhaltungsliteratur sowie entsprechender Abstufungen: Sie alle nehmen Funktionen von Literatur wahr, sie alle befriedigen damit tiefsitzende menschliche Bedürfnisse. Und die Ausdifferenzierung von Literatur sorgt dabei für die Möglichkeit der gezielten Befriedigung, sowohl auf die aktuelle Bedürfnislage des jeweiligen Menschen bezogen als auch auf die unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen des je Einzelnen innerhalb der Gesamtheit von Menschen. Und damit hat jedwede Literatur ein unabsprechbares Existenzrecht, ist das Sein aller Literaturhöhen unbedingt zu begrüßen. Literatur ist also notwendig, und es ist gut, dass es sie in allen nur vorstellbaren Anspruchsabstufungen und inhaltlichen Richtungen gibt. Doch wozu, könnte man nun noch fragen, immer neue Literatur? Weshalb diese unablässige Produktion? Die Antwort darauf ist ganz einfach: Literatur hat mit Welt zu tun – und Welt verändert sich. Sie verändert sich in sich und durch die Wandlungen in der Perspektive, die wir auf sie einnehmen – wobei diese beiden Kategorien freilich keineswegs als völlig getrennt zu betrachten sind, sondern hochkomplexen Wechselwirkungen unterliegen.

Die Folge ist: Andere Motive faszinieren plötzlich, andere Fragen drängen in den Vordergrund, andere Bedürfnisse dominieren. Und somit braucht es wieder eine neue Literatur, ebenso unablässig wie zwingend.

Wozu also Literatur? Weil sie unabdingbar ist, der Mensch sie zum Leben, zum Menschsein benötigt. Und wieso heute noch neue Literatur? Weil die Welt sich verändert hat – und jede neue Welt auch einer neuen Literatur bedarf, aus menschlicher Perspektive betrachtet.

Jan-Eike Hornauer
Geb. 1979, leidenschaftlicher Textzüchter (freier Lektor, Texter, Autor und Herausgeber), wohnt in München. Erster eigener Band: »Schallende Verse. Vorwiegend komische Gedichte«. Jüngste Herausgabe: »Grotesk! Eine Genre-Anthologie«, von Kultura-Extra als »literarischer Kracher« und »Ausnahmebuch« bezeichnet.

LitGes, etcetera Nr 50/ Wozu Literatur?/ November 2012