50/Wozu Literatur?/Essay: Literatur vor 2045. Paul-Henri Campbell

Paul-Henri Campbell
Literatur vor 2045

Alles, was in den dauernden Bestand dessen eingerückt ist, was wir Literatur nennen, steht auf eine rätselhafte Weise zwischen Einst und Immer.
(Hans-Georg Gadamer: Rainer Maria Rilke nach fünfzig Jahren)

Wimpernschlag. 50 Ausgaben. Jahre hingegangen ins Heft. Künstlich: diese Subsumtion der Zeit. Fiktiv vielleicht auch die Zahl, die ausgerechnet fünfzig Ausgaben dafür einbucht. Oder waren es 52, 55 oder bloß 47 Hefte? Und doch: Fülle aus Worten, tausendstimmig, eingekapselt in die Grenzen des Kalendariums einer Epoche. Ausgefüllte 50 Hefte. Randvoll und dazu noch vorbei.

Dass aber seit einiger Zeit etwas Neues im Gange ist, lässt sich schon daran erkennen, dass niemand sich fürchtet, etwas Neues zu sagen. Neues! Es gibt dergleichen. Alt nur in seiner Wiederkehr, ist das Neue die tiefe allgemeine Empfindung eines Bruchs, der die Neubeschreibung der Welt notwendig macht. Und so sind die Stimmen gerufen von innen her: die Tonlage zu wechseln, das Tempo zu erhöhen und das Temperament neu zu gewichten. Und doch möchte ich keine prognostizistische Alchemie üben, um die Zeit zwischen dem Anbruch und dem Dämmern dieser heutigen Epoche zu bezeichnen.

Was ich nun vortragen will, ist ein bescheidenes Unterfangen:

Es heißt Manifest. Nämlich dieses: dass die Zukunft der Expressivität darum ringen wird, Räume der Intimität für die ästhetische Erfahrung zu schaffen; dass sie entschieden werden wird durch solche Kunstwerke, die sowohl die Autonomie als auch die Intelligenz ihres Publikums ernst nehmen; und schließlich, dass dies ausschließlich durch die Mittel der Literatur möglich sein wird. Allerdings anders als die meisten Menschen im Literaturbetrieb gegenwärtig denken.

Ich gehe im Folgenden nun so vor: Zunächst charakterisiere ich Tendenzen in der Literaturproduktion, die von ihr fort führen, um schließlich in einem Zustand von Entfremdung zu münden; anschließend spreche ich über den Primat der Intimität, der durch die Literatur zum individuellen Selbst geht, sodass dieses sich als Selbst neu erlebt.

Erster Punkt. Seit dem Anfang des 20. Jahrhundert gewinnt insbesondere die Lyrik Europas und den USA sowohl in motivischer und formaler Hinsicht ein Bewusstsein wie nie zuvor. Diese Schübe aus Innovation und kreativer Lust sind noch lange nicht am Ende: Die Revolutionen des Expressionismus (etwa Ezra Pound) bis hin zu den Exzessen der Lautpoesie (etwa bei Bob Cobbing), der Potentiellen Literatur (etwa Oskar Pastior/der Oulipo-Kreis), der netzbasierten Dichtung (etwa Patricia Lockwood) inspirieren das Schaffen der Dichter am Beginn des 21. Jahrhunderts in produktiver, unkalkulierbarer, aber immer wieder verblüffender Weise.

Gewiss, ein jedes neues Gedicht ist Freude und Wunder zugleich. Und ja, ich meine in der Tat: jedes.

Zugleich aber lässt sich in diesen Bewegungen eine eigentümliche Dynamik feststellen. Eine Verschiebung. Die schleichende Verkehrung der ästhetischen Erfahrung hin zum bloßen Spiel, zum sozialen Event, zur technischen Virtuosität, zum billigen Gag und häufig auch zum Gagging.

Zudem kommt der Druck der Vermischung, dem medialen cross-over und mash-up, d.h. vom Vers zum Video-Clip, vom Handlungsablauf einer Erzählung zum Handlungsablauf eines Computerspiels, vom Buch-zum-Film und vom Film-zum-Buch, vom Lesen und Schweigen zum Lesen und Posten in sozialen Leserforen, vom Klassiker zum Graphic Novel

Dieser Wechsel zwischen den Formen des künstlerischen Ausdrucks, die gegenseitige Befruchtung, freilich hat Tradition: Man denke an Hugo von Hofmannsthals Libretti und die Opern von Richard Strauß; oder an John Miltons Epen und Johann Füsslis Malerei. Was daran ist aber befremdlich?

Was entfremden?

Die Erfahrung, besonders in der Gegenwart, ist, dass die Literatur keine isolierte Tätigkeit des künstlerischen Schaffens darstellt. Klar, könnte jemand voreilig zustimmen. Was bedeutet es aber, wenn sich die Literatur selbst nicht mehr genug ist? Wenn keine Unterscheidung mehr möglich ist zwischen Poem und Installation, zwischen Lesen und bloßem Zuschauen, zwischen eigener Ergriffenheit und dem insektenhaften Reagieren eines likes? Kein Problem: Synkretismus gehört ebenfalls zu unseren Fetischismen, könnte jener jemand wieder sagen. Ich glaube nicht. Ich glaube, dass, wenn die literarische Produktion ihr einziges Merkmal, ihre eigentliche inwendige Stärke preisgibt, wenn sie verlernt sich selbst genug zu sein, sie nicht nur irrelevant sein wird, sondern auch nicht mehr lesenswert. Denn die Stärke der Literatur liegt in der spezi fischen Qualität der ästhetischen Erfahrung, die nur durch sie erzeugt werden kann: eine Intimität des Selbst, das eine Erkundung des Selbst provoziert.

Zweiter Punkt. Ich lege jetzt ein Plädoyer für eine reine Literatur vor. Es ist natürlich nur meine partikulare Auffassung. Sie steht neben Vielen und beansprucht nicht mehr als ihren Platz. Was ist reine Literatur?

Reine Literatur ist gekennzeichnet durch Schriftlichkeit, durch die Situation der Lektüre und nicht des Vortrages. Sie ist gestellte Schrift. Sie ist Performance nur im Kopf; Schauspiel nur in der Introspektion. Reine Literatur vollzieht sich im Dialog zwischen Text und Leser. Sie arbeitet mit der symbolischen Struktur der Erkenntnis. Sie ist Literatur, die zu denken gibt; und die Gabe des Denkens, die den Gewinn des Selbst anreizt. Reine Literatur baut auf literarischen Zeugnissen auf, die ihr vorausgingen, indem sie diese variiert, modifiziert, adaptiert und in Spannung zum eigenen Horizont innoviert. Schriftlichkeit meint eine Verpflichtung zum schriftgestellten Wort als be-all und end-all der literarischen Expressivität. Schriftlichkeit ist sich über die Art und Beschaffenheit ihrer Trägermedien (z.B. Notizblock, gedrucktes Buch, iPad) im höchsten Maße bewusst und zielt auf eine Lektüre, die in der Situation der Intimität geschehen kann.

Was meint diese Intimität der Lektüre? So lange wir beim Film auf die Abfolge der Kameraeinstellungen, bei der Symphonie auf die Tempi des Dirigenten, beim Gemälde auf die Räumlichkeit der Illusion fixiert sind, so lange ist auch unsere ästhetische Erfahrung fremdbestimmt. Ich muss den Film so schnell sehen, wie ihn ein Regisseur geschnitten hat; ich muss die Arie so hören, wie sie gesungen wird; ich muss das Bild so sehen, wie es mir präsentiert wird. Intime Lektüre ist zunächst keine soziale Situation: Sie ist bei mir sein, zu mir selbst kommen, mein Bedeuten deuten – sie ist die Signifikanz des je meinigen.

Anders gesagt: Reine Literatur ermöglicht das Verweilen beim Satz bis sich ein Vorstellen, ein Verstehen, ein Empfinden einstellt; reine Literatur ermöglicht das Verweilen auf der Silbe bis sich ihr Klang aus allen Erinnerungen dieser Silbe, die ich je gehört habe, einstellen; reine Literatur ermöglicht das Verweilen bei einer Metapher, solange es mir gefällt, bis ich als Leser sagen kann, es ist meine Metapher, das sprachliche Bild, die eigentümliche Verschiebung des Meinens, die in der Metapher geschieht, mir gehört. Reine Literatur ist intim, weil sie die absolute Autonomie der ästhetischen Erfahrung, die totale Selbstbestimmung in der Auseinandersetzung mit einem Anderen ermöglicht.

Sooft Literatur ebendiese Qualität ihrer Rezeption preisgibt, verliert sie sich selbst, bleibt sie hinter ihren Möglichkeiten zurück. Sooft aber reine Literatur die ästhetische Erfahrung als intime Lektüre ermöglicht, gewinnt das Selbst eine Welt und damit die Welt ein wirklich individuelles Selbst. Und das wird das alles Entscheidende sein, die vornehmliche, die eminenteste Aufgabe sein … über die nächsten fünfzig Ausgaben.

Paul-Henry Campell
Geb.1982 in Boston, Massachusetts. Der deutsch-amerikanische Autor studierte Philologie (Altgriechisch) und katholische Theologie an der National University of Ireland und der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Lebt derzeit in Leipzig, verfasst Lyrik und erzählende Prosa in deutscher und englischer Sprache. Lyrik-Trilogie ›Sounding out Today‹ (Die Gegenwart ausloten) mit dem Titel „duktus operandi”, seine short stories „meinwahnstraße” erschienen 2011.

LitGes, etcetera Nr 50/ Wozu Literatur?/ November 2012