51/viel-leicht/Essay: Stefan Köglberger - Zum Wort des Tages

Stefan Köglberger
Zum Wort des Tages

„Vielleicht“, antwortet jemand, der seine Optionen offen halten möchte. Das muss nicht unbedingt jemand sein, der die Verknappung der Möglichkeiten fürchtet, die jede Entscheidung mit sich bringt. Das kann man nie so genau wissen. Eine ganze Reihe von (zumeist männlichen) Personen verwendet „vielleicht“ in erster Linie, um ihre eigene Entscheidungsunfreiheit zu kaschieren. So der treue, folgsame Ehemann, der von seinen Freunden zu einer Zechtour geladen wird. Er bedankt sich vorweg einmal, spürt, wie ihn die große Freiheit reizt, malt sich die wildesten Szenen einer Nacht voll Sex, Drugs and Rock ’n’ roll aus und antwortet dann mit dem magischen Wörtchen: „Vielleicht“, was im Klartext so viel heißen soll wie: „Ich muss erst mal zu Hause nachfragen.“ Dies ist die wohl denkbar profanste Möglichkeit, diesen so bedeutungsvollen Zweisilber zu gebrauchen.

Elementarere Vermutungen: Vielleicht ist das Leben sinnvoll, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht gibt es einen Gott; möglich wär’s. Vielleicht ist jede Weltreligion aber auch nichts als die Manifestation eines an seine Vollendung gekommenen Wunschdenkens der Gattung Mensch. Wer weiß?

Das „Vielleicht“ in seiner intellektuellsten Form ist sicherlich das „Vielleicht“ des Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Die Verneinung der Gewissheit, die alles zum Spekulativ erhebt, zum „Vielleicht“ erklärt, hat eine lange denkerische Tradition. Das Sich-nicht-Festlegen auf einen Standpunkt, ob des Wissens um die Komplexität eines jeden Verhältnisses, fordert ein Abwarten, ein Erforschen, ein Abwägen und, letzten Endes, eine Entscheidung nach Wahrscheinlichkeiten. Der Denkende weiß: Das Definitive und Endgültige, das gerechte Urteil ist immer Illusion, das „Vielleicht“ immer näher an der Wahrheit. Der Kommunismus ist vielleicht eine gute Sache und vielleicht ist bloß der Machtmissbrauch, der die Herrschenden allezeit erfasst, Ursache dafür, dass der Traum von der vollständigen, materiellen Gleichheit aller Menschen bislang nicht funktioniert hat.

Dem intellektuellen „Vielleicht“ gesellen sich aber noch viele andere Formen hinzu, unter anderen das eingangs erwähnte „Vielleicht“ desjenigen, der seine persönliche Entscheidung hinauszögern möchte, um sich keine Möglichkeit zu verbauen. Dieses „Vielleicht“ muss nicht immer derart schüchtern gebraucht werden wie im obigen Beispiel. Der erhabenen Variante des Typus Mensch, den das obige „Vielleicht“ regiert, hat Friedrich Schiller in seinem Drama „Wallenstein“ ein Denkmal gesetzt, wenn eben dieser Wallenstein in seinem berühmten Monolog von sich gibt:

„Wärs möglich? Könnt ich nicht mehr, wie ich wollte? Nicht mehr zurück, wie mirs beliebt? Ich müßte Die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht, Nicht die Versuchung von mir wies – das Herz Genährt mit diesem Traum, auf ungewisse Erfüllung hin die Mittel mir gespart, Die Wege bloß mir offen hab gehalten? – Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht Mein Ernst, beschlossne Sache war es nie. In dem Gedanken bloß gefiel ich mir; Die Freiheit reizte mich und das Vermögen.

Wallenstein scheitert, und sein Scheitern ist Folge seiner Entscheidungsschwäche. Seine Entscheidungsschwäche wiederum wurzelt in seinem unbedingten Opportunismus. Sein Nicht-Beziehen einer klaren Position und das Ablehnen persönlicher Verantwortung, motiviert durch sein Streben nach einem Maximum an potentiell zu gewinnender Macht, lässt ihn ins Verderben laufen; in ein Verderben, das er zum Ende hin sehenden Auges erwartet.

Das letzte „Vielleicht“, das hier behandelt werden soll, ist jenes, das René Descartes gegen die Erscheinungen der Welt ausgesprochen hat: das „Vielleicht“ des Skeptikers, das „Vielleicht“ des unbedingten Zweifels. Was Descartes’ bedingungsloses Infragestellen des eigenen Selbst zuallererst ermöglichte, war seine Erwägung, dass alles – und wirklich alles, selbst das Ich – bloß Chimäre sein könnte. Die Radikalität, mit der Descartes dieser Idee folgt, beruht auf nichts anderem als seinem steten Glauben an dieses „Vielleicht“. Einzig die Möglichkeit, dass alles ein Nichts sein könnte, trieb ihn zu seinem alles niederwalzenden Rationalismus, der nicht nur die gesamte westliche Geistesgeschichte nach ihm veränderte, sondern ihm zudem darlegte, dass er zumindest eines sicher wissen könne. Denn auch wenn alles seinem Zweifel unterliege, so könne er doch mit absoluter Sicherheit schlussendlich sagen, dass er selber zweifle. Sein Zweifel ist über das „Vielleicht“ erhaben. Descartes ist nicht in erster Linie, weil er denkt, sondern weil er zweifelt, wenngleich der Akt des Zweifelns jenen des Denkens impliziert.

Zu den Möglichkeiten zum Gebrauch des netten Wörtchens „Vielleicht“, das uns tagtäglich in ganz unschuldiger Manier entgegnet, gäbe es wahrlich noch weitaus mehr zu sagen. Allein, der Rahmen reicht nicht aus. Und wenn eine solche Formulierungen schon gebraucht wird, sei es erlaubt, mit einem weiteren üblichen Satz geisteswissenschaftlicher

Stefan Köglberger
Geb. 1983, studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Wien. Veröffentlichungen in der Rampe und Teilnehmer beim 19. open mike in Berlin. Lesungen in Berlin und bei der Buch Wien.

LitGes, etcetera 51/viel-leicht/ März 2013