52/Körper/Essay: Körper die wir sind. Caspar Jenny

Caspar Jenny
Körper die wir sind

Eine Kultur lässt sich gut daran erkennen, wie sich Körper begegnen. Die Beobachtung von Körper bringt den Vorteil, dass wir diese direkt und sozusagen ungeschminkt wahrnehmen. Wie viel mehr kann ein Gesichtsausdruck oder die Körperhaltung darüber aussagen, was jemand von einem halt, wahrend das leere Gerede über einen herschwappt.
Die Direktheit der körperlichen Wahrnehmung vermag uns also weniger über die Absichten des Gegenübers hinwegtäuschen, als Worte es tun. Die Verlogenheit einer körperlichen Geste ist viel augenscheinlicher als jede Höflichkeitsfloskel.
Der Ausdruck „Körpersprache“ weist denn auf diese Beredtheit körperlicher Ausdrucksfähigkeit hin.
Körper können uns einen Subtext von dem vermitteln, was eigentlich gemeint ist. Die Ausdruckstarke körperlicher Agitation zeigt sich in vielen Beispielen. Was ist verletzlicher als eine abgewiesene ausgestreckte Hand, jemanden keines Blickes zu würdigen, auf dem Absatz kehrt zu machen oder mit dem Zeigefinger auf jemanden zu zeigen.

Was bezeugt mehr Zuneigung als jemandem über den Kopf zu streicheln, zu umarmen, fest die Hand zu drucken oder auf die Stirn zu küssen. Wir leben und sterben mit diesen Signalen körperlicher Zuneigung und Abweisung, sie sind unser tägliches Brot in Bezug auf unser Lebensgefühl. Im Film z.B. können Gesten ein Maximum an Ausdruck gewinnen.

Im gemeinsamen Sterbeprozess eines Ehepaars zieht die Frau ihre Hand aus der Umschliessung der männlichen Hand: Wie konnte man Unversöhnlichkeit und Abweisung besser darstellen. Als in einem Film des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa die Frau eines Reisenden von einem Räuber erotisch überwältigt wird, zeigt sich dieser Hohepunkt vollstandiger Hingabe, als die Frau das Messer aus ihrer Hand fallen lasst, das sich in den Erdboden bohrt. Eine Szene die einen Archetypus filmischer Umsetzung geleistet hat, wenn es darum geht, diese Emotion körperlich darzustellen. Körperbilder sind demnach im Repertoire unserer Wahrnehmung so fest verankert wie die Sprache.

Die alltägliche Erfahrung von körperlichem Verhalten prägt unser Verständnis davon, wie sich Körper begegnen. Die Regeln körperlichen Verhaltens aber sind zufällig und gehorchen keineswegs einem universalen Prinzip, sondern vielmehr einem kulturell ausgerichteten Bedürfnis. Wer hat nicht schon Männer aus Italien oder aus Ex-Jugoslawien gesehen, die sich zur Begrüssung gegenseitig auf die Wange küssen. Ein Körperverhalten, das unter Schweizern, Deutschen und Osterreichern wohl kaum praktiziert wird. Es ist offenkundig, dass Menschen aus dem mediterranen Raum in ihrer Körpersprache sehr viel direkter und sinnlicher sind. In einer Distanzkultur, wie der unseren, ist der Körper sehr viel starker ein Objekt der Scham, und körperliche Direktheit eher unerwünscht. Mit dem ausgelebten oder reduzierten Körperverhalten tritt gleichzeitig eine Geisteshaltung zu Tage. So wie sich Körper begegnen, so denken Menschen. Körper die wir sind verraten unseren Geist bzw. Ungeist, und sind keineswegs vom Intellekt zu trennen. Der domestizierte Körper einerseits und der dionysische Körper andererseits sind jene Pole kulturellen Behagens oder Unbehagens, die wir täglich erfahren. Eine behagliche Körpererfahrung war nun folgendes Erlebnis.

Auf einer Indienreise machte ich an der Ostküste die Bekanntschaft mit einem Mädchen aus einem Fischerdorf bei Puri. Es folgte ihrerseits eine Einladung in ihre Hütte zu einem Fischessen mit der ganzen Familie. Nachdem wir gegessen hatten, gingen wir alle an den Strand. Wahrend wir so gingen, fühlte ich wie der Vater des Mädchens meine Hand nahm und in die seine schloss. So gingen wir Hand in Hand dem Sonnenuntergang entgegen, ohne dass wir ein Wort miteinander gesprochen hatten. Ich konnte kein Hindi  und der Vater des Mädchens kein Englisch. Es war zugleich erschütternd und schon mit einem mir vollständig unbekannten Mann so zu gehen. Mein gesamtes kulturelles Verständnis wurde über den Haufen geworfen, weil mir dieses Körperverhalten völlig fremd war. Es ist aber in Indien durchaus üblich, dass Männer Hand in Hand gehen, ohne dass dies eine sexuelle Konnotation nach sich ziehen wurde. Es ist so normal, wie sonst etwas für normal empfunden wird. In dieser körperlichen Begegnung lag etwas Versöhnliches, wie ich es nie mehr erlebt habe. Man konnte beinahe sagen, so begegnen sich Menschen, die sich der Gattung Mensch zugehörig fühlen. Die Überbrückung des Fremden war dem Vater aus dem Fischdorf mit einer einzigen körperlichen Geste gegluckt, und von einer Ausdrucksstarke, wie es keine Grussformel vermag. Es war selbstverständlich, so wie das Mädchen in der Hütte mir den Schweiss mit der blossen Hand von der Stirn rieb, so selbstverständlich, wie dass man mit der rechten Hand isst und mit der linken Hand den Hintern säubert. Eine Milliarde Inder halt dies für selbstverständlich, so dass es ein starkes Argument wird, das eigene Körperverhalten zu überdenken und vielleicht für nicht normal zu halten. Der Ekel vor dem Körper des anderen wird in einem Land wie Indien obsolet. Die Missachtung, die man einem anderen Körper entgegenbringt, kann sodann sehr verletzend sein. Vergewaltigte, gefolterte und kriegsgeschädigte Körpern bilden den Zenit dessen, was an Grausamkeit gegenuber Körpern möglich ist. Die Summe der Schmerzen, die Körper erleiden müssen, ist unvorstellbar, wenn man weiter an all die Krankheiten denkt. Ins öffentliche Bewusstsein haben sich vor allem die ausgemergelten Körper von an Aids erkrankten Menschen eingebrannt. Dass Körper den Prozess der Agonie schonungslos protokollieren können, machen ihn zu einem unheimlichen Ort, von dem man lieber nicht wissen will, was er alles auszubrüten vermag. Dem Körper als ein Ort des Todes, der Krankheit, des Schmerzens und der Demütigung steht der gesunde, lebendige, lustvolle, sexuelle und junge Körper gegenuber. Die Idealvorstellung eines schonen Körpers ist im Abendland seit der griechischen Antike ein Bedürfnis nach vollendeten Proportionen. Wie kann man im Vergleich dazu die Vorstellung von körperlicher Schönheit verstehen, zu deren Zweck die Füsse bei chinesischen Mädchen abgebunden wurden, oder die Lippen einen Teller tragen oder der Hals von Kind an mit Ringen aufgestockt wird. Körperliche Schönheit scheint demnach sehr relativ zu sein und lasst z.B. Frauen aus der Modelbranche bis an den Rand eines Skeletts hungern. Ein unbehagliches Erlebnis, das mit dem Körperverständnis einer Kultur sehr viel zu tun hat, soll ein Licht darauf werfen, wie Körper wahrgenommen bzw. ignoriert werden. Es war der letzte Tag im letzten Jahr, als ich mit meinem Freund S. eine Bar in meiner Strasse besuchte. Es handelte sich um eine thailändische Bar, die im hellen Licht in allen Farben schillerte und wie ein Magnet wirkte. Mein Freund S., den ich unlängst kennengelernt hatte, ist ein Opfer des Contergan-Skandals, einem Arzneimittelskandal in der BRD, der in den Jahren 1961 und 1962 aufgedeckt wurde und in der Folge eine Reihe von gesetzlichen Massnahmen nach sich zog. Das Beruhigungsmedikament wurde gegen Schwangerschaftsübelkeit eingesetzt, bis man herausfand, dass der Wirkstoff Thalidomid zu schweren Fehbildungen und Fehlen von Gliedmassen und Organen bei Neugeborenen fuhrt. Meinem Freund sind infolge dieses ärztlich verschriebenen Medikaments keine Arme gewachsen. Man muss sich also vorstellen können, dass alles, was wir mit den Händen erledigen, mein Freund mit den Füssen erledigen muss. Wir setzten uns an die Theke und bestellten eine Cola. Die Theke war ziemlich hoch, so dass S. seine Beine über die Theke heben musste, um die Flüssigkeit aus der Flasche in das Glas giessen zu können. Als mein Freund die Cola-Flasche wieder abstellte, war ich nicht schlecht erstaunt darüber, wie sicher und gekonnt er alle diese Bewegungen ausfuhren konnte. Wer mit richtigen Augen sieht, musste an ein besonderes Kunststuck denken, wenn es nicht die schiere Notsituation ist, die meinen Freund dazu veranlasst, statt der Hände seine Füsse zu gebrauchen. Wahrend wir so sprachen und bereits bei der zweiten Runde angelangt waren, sah ich, wie mir der Besitzer des Restaurants mit einem Wink verständlich machte, zu ihm nach hinten zu kommen. Es ginge nicht an, so sagte dieser, dass ich solche Leute in sein Restaurant bringe, die ihre Füsse auf der Theke haben, das wurde den Leuten vielleicht den Appetit verderben, die sich im gleichen Raum aufhalten und so oder so, wäre es für das Geschäft sicher nicht förderlich. In meiner situativen Feigheit versicherte ich ihm, sobald als möglich sein Lokal zu verlassen. Das Unglaubliche war geschehen. S. war als ein Mensch mit einem extremen Handicap in dem Lokal nicht erwünscht, weil er in den Augen des Besitzers die Anstandsregeln nicht einhalten konnte. Als wir wieder draussen auf der Strasse waren, fragte mich S., ob es vielleicht etwas mit ihm zu tun gehabt haben konnte, dass der Besitzer mich zu sich gerufen hat. Das dies so war, konnte ich S. nicht abstreiten und das Gefühl gedemütigt worden zu sein, war für S. unvermeidlich geworden, und es war klar, dass ich dieses Lokal nie mehr betreten wurde. Dieses Erlebnis scheint mir sprechend für den geistigen Zustand einer Gesellschaft zu sein, die ihre defizitäre Menschlichkeit täglich unter Beweis stellt. Das Fatale an diesem Ereignis ist seine logische Konsequenz. S. ist es letztlich nicht mehr gestattet in dieses Lokal zu gehen, weil er an Stelle der Hände seine Füsse gebrauchen muss. Sind Füsse schmutzig? S. versicherte mir, dass in unserer Kultur Füsse oft für schmutzig angesehen werden. Interessanterweise wusste er mir zu berichten, dass er bei asiatischen Menschen oft negative Erlebnisse gemacht hatte, und dass Menschen aus dem afrikanischen Kulturraum überhaupt kein Problem mit seiner Beeinträchtigung hatten. Ein noch toleranteres Körperverständnis erlebte S. in Jamaica, als Lehrer S. baten in die Schule zu kommen, um den Kindern zu zeigen, wie das ist, wenn man alles mit den Füssen machen muss. Vor Hunderten von Schülern bewies S. seine Fussfertigkeit. Das kulturelle Verständnis scheint derart grundsätzlich verschieden, dass in einer Kultur mein Freund ausgestossen und in der anderen aufgehoben wurde.

Der Umgang mit Körpern ist demnach ein radikal anderer, in welcher Kultur wir uns jeweils bewegen. Dort schmiegen sich die Kleinkinder an den Rucken der Mutter, hier werden sie in einem Wagen herumkutschiert. Wenn wir davon ausgehen, dass körperlicher Ausdruck immer auch zugleich geistiger Ausdruck ist, musste ein verkümmerter Geist auch körperlich verkümmert erscheinen. Leider zeigt die Erfahrung, dass intellektueller Geiz tatsachlich mit körperlichem Geiz einhergeht. In protestantischen Gefilden ist die Körperfeindlichkeit bzw. Lustlosigkeit tatsachlich bis in den eigenen Körper spürbar und ein Leiden sonderbarer Art. Der gelahmte Körper vermag sich nicht mehr richtig zu freuen, sondern sieht sich nur noch als Ort der Tauglichkeit und Funktionstüchtigkeit. Die hier zelebrierte Befangenheitskultur erzeugt eine Verkrampfung solcher Art, dass die Körper Sinnlichkeit vermeiden und Distanz und Abgeschlossenheit gegenuber anderen Körpern signalisieren.
Ein toter Geist wohnt in toten Körpern. Offenbar ist es sogar im Gegenteil so, dass den funktionierenden Körpern ein verkümmerter Geist innewohnen kann. Schamlos sind nicht die Körper die wir sind, sondern wie wir ihn vorstellen.

Schmutzig sind nicht die Füsse auf dem Tisch, sondern eine Moralvorstellung, die das Dinghafte über den Menschen stellt und damit den Körper verdinglicht und ihn als entseelte Hülle behandelt. Das Unbehagen in der Kultur ist somit ein körperliches. Das zivilisatorische Betragen erzwingt eine Rationalität des Körperverhaltens, die vom Denken destruktiv kompensiert wird. Der frustrierte Körper ist soweit entsinnlicht und sexuell tabuisiert, dass er andere Körper als Bedrohung empfindet. Die vollständige Separierung der Körperbetätigung zeigt im Grunde genommen ein perverses Körperverständnis: In Fitnesszentren halten sich die Körper fit, in der grössten Hitze rennen Jogger um ihre Gesundheit, es ergibt sich ein Bild anonymer und einsamer Körper, denen keine wirkliche Lebensfreude mehr entrinnt.

Das unerotische Klima arbeitsamer und korrekter Körper aber findet sein Äquivalent in kleinlichem Gedankengut. Das protestantische Denken verstummelt alles, was sowohl körperlich als auch geistig seine Grenzen übersteigen will. Das Dionysisch-Rauschhafte bleibt diesen Körpern fremd, weil es nicht sein darf, dass ausgelassene Körperlichkeit das Klima geregelter Körper durcheinanderbringt. So wenig rauschhaft wie die Körper am Morgen in der Trambahn in sich gekehrt ruhen, so wenig rauschhaft wird das tägliche Leben. Füsse auf einem Tisch sind in diesen Augen anstössig, in den Augen jener aber, die körperliche Ekstase auch im musikalischen Ausdruck des Reggae zelebrieren, ist die stark körperliche Beeinträchtigung von S. Anlass, Menschen darüber aufzuklaren, was alles möglich ist, und was man aus dieser Situation machen kann. So lassen sich Bedeutungssinn und Wahrnehmungssinn eigentlich nicht voneinander trennen, vielmehr fallen Körpersinn und Inhaltssinn zusammen, wo wir von wahrhafter Kultur sprechen wollen. Unkultiviert ist ein Geist, der im Körper etwas dem Geist Untergeordnetes versteht. Unsinnliche Körper beherbergen einen unsinnigen Geist, bleiben auf der Strecke dorthin, worum es geht: die Angst vor dem Körper zu überwinden und den anderen in die Hand zu nehmen, wenn es uns nur gelingt.

Caspar Jenny
Geb. 1971 in Basel. Arbeiten als Kunstmaler, Postangestellter, Strassenmusiker und in einer Verlagsauslieferung. Reisen nach Indien und Sudostasien. Studium der Philosophie, Germanistik und Ethnologie. Veröffentlichung von Gedichten in mehreren Literaturzeitschriften.

Erschienen im etcetera Nr 52/ Körper/ Mai 2013