54/blind/Essay: Gertraud Artner - Ossian oder die unendliche Sehnsucht

Gertraud Artner
Ossian oder die unendliche Sehnsucht

Es war einmal vor langer, langer Zeit.....
Genau genommen war es im Herbst 1736, als James Macpherson in der Grafschaft Inverness, Schottland das Licht der Welt erblickte. Nichts deutete darauf hin, dass er bereits als junger Mann für ein literarisches Jahrhundertereignis weit über die Grenzen seiner Heimat hinaus sorgen sollte.
Zunächst begann er als einfacher Schullehrer in seinem Geburtsort Ruthven. Mit 23 Jahren übersiedelte er nach Edinburgh, wo er als Erzieher und Hauslehrer tätig war. In dieser Zeit erhielt er den Auftrag, alte gälische Gesänge der Heimat zu sammeln und zu übersetzen. An sich nichts Außergewöhnliches, lag doch die Hinwendung zu den nationalen Wurzeln, zur Volkspoesie und ihren Sagen voll im Zeitgeist vorromantischer Sensibilität.

Louis Girodet-Trioson, Ossian empfängt die Helden, 1801
Louis Girodet-Trioson, Ossian empfängt die Helden, 1801

Bereits die erste Ausgabe „Fragments of Ancient Poetry“ 1760 wurde ein durchschlagender Erfolg. Die Kritiker und das Leserpublikum waren begeistert von den unverfälschten Naturbildern, hingerissen von dem Naturgefühl insgesamt und den edlen Helden. Bestärkt und ermutigt unternahm Macpherson noch im selben Jahr eine mehrmonatige Forschungsreise in das schottische Hochland, doch dürfte die Zahl der noch erhaltenen Fragmente eher enttäuschend gewesen sein. Kein Problem für Macpherson, der sich nicht bloß als Übersetzer, sondern immer auch als Dichter verstand. Voll Fantasie „vervollständigte“ er die „ancient fragments“, schmückte sie aus und (er)fand - das Wichtigste! - den Hauptprotagonisten seiner Gesänge:
Ossian, der keltische Barde, Sohn des Finn und Held des südirischen Sagenkreises im 3. Jahrhundert n. Chr. Geburt. Kurzerhand transferierte Macpherson die Geschichte nach Schottland frei nach dem Motto: Kelten da wie dort. Aus Finn machte er Fingal, König der Kaledonier, der auf Burg Selma im schottischen Hochland residierte. Schlachten und Tote gab es viele, zuletzt wurde auch noch Ossians Sohn Oskar ermordet. Es war dessen Verlobte Malvina, die treu den mittlerweile greisen und blinden (!) Barden pflegte, der fortan zur Harfe die Heldentaten Fingals, Oskars und der anderen Helden besang.
Anders als der irische Ossian war sein schottisches Ebenbild blind. Ein interessanter Kunstgriff Macphersons, bei dem die Homer–Renaissance im England des 17. Jahrhunderts offenkundig einen starken Eindruck hinterlassen hatte. Schließlich stattet die Legende Homer mit den typischen Zügen des wandernden Rhapsoden aus, zu denen auch Blindheit gehörte. Da konnte Ossian nicht zurückstehen.
Übrigens versuchte sich Macpherson Jahre später an einer Homer–Übersetzung, die ihm den Spottnamen „Homer im Schottenrock“ eintrug. Keinen Spott gab es für die Ossian–Werke, ganz im Gegenteil. Zwar wurden immer wieder Zweifel an der Echtheit der Schriftstücke laut, doch die entfachten Begeisterungsstürme fegten sie mühelos hinweg. Die Euphorie kannte buchstäblich keine Grenzen. Dabei ist die Faszination, die von Ossian ausging, nach heutigen Maßstäben kaum
nachvollziehbar. In schwülstig–romantischer Manier beschwören die Gesänge episches Schlachtengetümmel vor nebelverhangener Landschaft, erinnern an die Schicksale auserwählter Helden, die sich meist um die Rettung von Königreichen bemühten. Offenbar fanden sich hier genau jene Melancholie und Nostalgie, jener Weltschmerz wieder, die – gepaart mit nationalem Gedankengut – für die Epoche der Romantik prägend sein sollten.
Hier eine kurze – ausnahmsweise nicht kriegerische – ostprobe mit prominenter Übersetzung aus „The Songs of Selma“:
What dost thou behold, fair light?
But thou dost smile and depart.
The waves come with joy around thee,
and bathe thy lovely hair.
Farewel, thou silent beam!
Let the light of Ossian`s soul arise.
And it does arise in its strength!
(Macpherson, 1762)

Wornach siehst du, schönes Licht?
Aber du lächelst und gehst;
freudig umgeben dich die Wellen
und baden dein liebliches Haar.
Lebe wohl, ruhiger Strahl!
Erscheine, du herrliches Licht von Ossians Seele!
Und es erscheint in seiner Kraft.
(Goethe, 1771/1774)

In den skandinavischen Ländern war Ossians Einfluss ungeheuer, unterstrichen doch die der eigenen Mythologie ähnlichen keltischen Legenden den Kult der nationalen Wurzeln. Anders in Frankreich, wo der Ossianismus vor allem auf dem persönlichen Engagement von Napoleon Bonaparte beruhte. Ossian war s e i n Dichter, so wie Homer der Dichter Alexanders und Virgil der des Augustus war.
Seine Werke begleiteten ihn auf dem Schlachtfeld und angesehene Maler wurden mit der Huldigung des keltischen Barden beauftragt. Die Wellen des Ossian-Kults umfassten das ganze Kaiserreich. In den Salons, in Kunstausstellungen, überall tauchten ossianische Themen auf. Die Vermarktung hatte voll eingesetzt. Einer der ganz wenigen, der dieser Geschmackswelle widerstand, war übrigens der Skeptiker Voltaire.
Ins Deutsche wurden die Werke Ossians erstmals 1768/69 von dem Wiener Jesuiten Michael Denis, der sich selbst Barde Sined nannte, übersetzt. Besonders im deutschsprachigen Raum vermochten die Gesänge ganze Dichtergenerationen in ihren Bann zu schlagen und trugen wesentlich zum „Sturm und Drang“ bei.
Johann Gottfried Herder, bedeutender Vorreiter der Ro
mantik und auch Sammler von Volksgesängen, brachte seinem Schützling Goethe die Ossian-Lieder nahe. Und auch Goethe entbrannte sogleich leidenschaftlich für den „Homer des Nordens“, was augenscheinlich in „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) seinen Niederschlag fand: als Motiv der Empfindung und Reflexion seines Helden und als Zitat. Werther selbst bekennt: „Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt.“ Der Ossian-Kult wurde von nun an von der Werther-Begeisterung mitgetragen. Praktisch alle namhaften Künstler dieser Zeit, ob Dichter, Maler oder Komponisten waren mit dem keltischen Barden befasst. Sogar Franz Schubert verfasste 1815/16 eine Reihe von Liedern zu Ossian. Da war die Fälschung allerdings schon längst offiziell nachgewiesen (nach dem Tod Macphersons 1796) und man würde annehmen, dass damit auch die ganze Geschichte letztlich ein eher unrühmliches Ende fände. Tatsächlich war der Ossian-Kult aber nicht Abschluss, sondern Auftakt, sozusagen Dämmerung einer neuen Epoche, die der Romantik. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts in Vorbereitung löste sie etwa um die Wende zum 19. Jahrhundert Aufklärung und Klassizismus ab. Und in keinem anderen Land erreichte die Romantik eine derartige Hochblüte und zugleich Breitenwirkung wie in Deutschland.

Gottfried Helnwein Epiphanie (Anbetung der Könige 3), 2013 Privatsammlung © VBK, Wien, 2013
Gottfried Helnwein Epiphanie (Anbetung der Könige 3), 2013 Privatsammlung © VBK, Wien, 2013

Es war vor allem das nationale Gedankengut, das hier auf fruchtbaren Boden fiel. Friedrich Gottlieb Klopstock, Vorbild der Messiaden-Literatur seiner Zeit und ein Vater des deutschen Nationalstaatgedankens, führte noch in den späten 60er Jahren des 18. Jahrhunderts eine eigene Korrespondenz mit Macpherson, um festzuhalten, dass für ihn Ossian deutscher Abkunft, weil Kaledonier war. Zu dieser Zeit erschien übrigens auch sein wohl bekanntestes Drama „Hermanns Schlacht“ ( erster Teil seiner Hermann-Trilogie). Auch Herder huldigte der nordischen Mythologie in der Überzeugung, dass jeder wahre Dichter seine Ideen „aus der Denkart der Nation“ schöpfen sollte und diese Ideen Gestalt annehmen müssten in einer „ihrer eignen Denkart und Sprache entsprossenen Mythologie“. 1)  Dass es sich bei den Ossian-Gesängen um eine Fälschung handelte, wurde offenbar ausgeblendet. Doch sollte der keltische Sagenkreis in den folgenden Jahren und Jahrzehnten ohnehin an Bedeutung verlieren verblassen angesichts einer sich anbahnenden Götterdämmerung, d e m Heldenepos der Germanen: die Nibelungensage, das deutsche Nationalepos schlechthin. Von der nationalen Gesinnung reichte nur ein kleiner Schritt zum Nationalismus. Karl Popper meinte in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945) treffend, dass der Nationalstaat an sich ein Mythos sei, ein Traum von Naturalismus und kollektivistischer Stammeszugehörigkeit. Im Großen Brockhaus wiederum findet sich unter „Romantik“ der rührende Hinweis: „Die Nachwirkung des romantisch Irrationalen, Maßlosen und Schwärmerischen auf das politische Leben ist besonders in Deutschland im 20. Jahrhundert zu einer Gefahrenquelle geworden.“(Ausgabe 1956) Aber worum geht es bei dieser „unendlichen Sehnsucht“, die sich so nachhaltig im deutschsprachigen Raum ausbreitete, überhaupt? In einer Zeit tiefgreifender wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche (Industrialisierung!) war die Romantik zunächst eine Reaktion auf das Monopol der vernunftgetriebenen Aufklärung, getragen von einem starken Freiheitsideal. Die Romantiker empfanden die Welt als eine zerrissene, gespaltene und strebten nach der Einswerdung von Vernunft und Gefühl, von Mensch und Natur. Ihre treibende Kraft war eine ins Unendliche gerichtete Sehnsucht nach der Zusammenführung von Gegensätzen zu einem harmonischen, universellen Ganzen, einer auf Treue gegründeten Weltordnung. Symbol dieser Sehnsucht und des Strebens nach Unendlichkeit war die Blaue Blume. 2) Im Deutschland des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein regelrechter Kornblumen-Kult. Zum politischen Symbol deutscher Treue wurde die Kornblume aber vor allem in Österreich. So war sie die Parteiblume der Schönerer Bewegung „Alldeutsche Vereinigung“ 3), seit 1935 Teil des Logos des „Vereins für das Deutschtum im Ausland“ und 1933 bis 1938 Erkennungszeichen der damals illegalen Nationalsozialisten.

Seit 2006 tragen die Abgeordneten der FPÖ zu konstituierenden Sitzungen des Nationalrates neben der üblichen weiß-roten Schleife die Kornblume. Wie jedes Märchen endet auch diese Geschichte über Blindheit und Verblendung mit dem Satz: „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.“ Was Macpherson anbelangt, brachte er es zeitlebens zu Reichtum und Ansehen, erhielt ein Staatsbegräbnis und ruht seit knapp 220 Jahren im „Dichterwinkel“ der Westminster Abbey.
 

1) Als Quelle der vorliegenden Arbeit diente großteils der Katalog „Ossian und die Kunst um 1800“, Hamburger Kunsthalle, Prestel Verlag München 1974
2) Der Dichter Novalis verwendet erstmals dieses Symbol in seinem fragmentarischen Roman „Heinrich von Ofterdingen“ (1800/1802) über einen sagenhaften Sänger im 13. Jhdt.
3) Georg Schönerer (1842 – 1921), österr. Gutsherr und Politiker, Führer der Deutschnationalen und ab 1891 der Alldeutschen Vereinigung, u. a. Mitglied des niederösterreichischen Landtages. Er war ein heftiger Gegner des politischen Katholizismus und radikaler Antisemit, eines der Vorbilder des jungen Adolf Hitler.

 

Erschienen im etcetera Nr. 54 / blind / Dezember 2013