57/konkrete Poesie/Essay: Walter Ruprechter: Zur "Japanischen Visuellen Poesie"

Walter Ruprechter

Zur "Japanischen Visuellen Poesie"

Aus der Eröffnungsrede zur Ausstellung „Japanische Visuelle Poesie & an exercise in contamination“ in der Austrian Embassy Gallery Tokyo.

 

Die visuelle Poesie hat in den Bereichen der bildenden Kunst und Literatur, an deren Grenze sie angesiedelt ist, eine Globalisierung angestrebt, als dieses Wort noch nicht erfunden war. In der Form, in der wir sie heute verstehen, geht die visuelle und konkrete Poesie in die 1950er Jahre zurück und wurde von vornherein nicht nur interdisziplinär, sondern auch international angelegt. Die entscheidenden Impulse zu dieser Bewegung kamen aus Brasilien, Deutschland, der Schweiz und Frankreich, aber auch Japan und Österreich waren schon in den 1950er Jahren mit dabei. Aus Japan trugen dazu bei Katsue Kitasono und Seiichi Niikuni und aus Österreich die Poeten der Wiener Gruppe, allen voran Gerhard Rühm.

Der globale Zug der visuellen Poesie besteht darin, dass sie die sprachliche Äußerung auf wenige Wörter oder überhaupt nur auf Wortelemente reduziert, und zwar – im Unterschied zur Lautpoesie – auf deren schriftlichen, optischen Teil, und dann mit diesen Elementen grafische Anordnungen vornimmt, um zu sehr einfachen, aber oft verblüffenden Aussagen zu kommen. Die Bedeutung der einzelnen, nationalen Sprachen soll dadurch zurückgedrängt werden und so etwas wie eine universelle Kommunikationsform entstehen, also eine Art Esperanto der Literatur. Dabei hat sich aber gezeigt, dass es oft genug gerade die Charakteristiken der einzelnen Sprachen sind, die den Reiz vieler solcher Versuche ausmachen.

Ein ganz besonderer Reiz ist natürlich dann gegeben, wenn nicht nur die Sprache wechselt, sondern das ganze Aufzeichnungssystem, wie das ja bei den europäischen Sprachen einerseits und dem Japanischen andererseits der Fall ist. Die europäischen Visuellen und Konkreten kommen bei ihren Reduktionen immer auf das Alphabet mit seinen an sich bedeutungslosen Buchstaben, deren grafische Qualitäten für die Konstitution von Bedeutung in den visuellen Gedichten untersucht werden. Das Japanische mit seinen drei eigenen Aufzeichnungssystemen, den beiden Kana und den Kanjis, und darüberhinaus noch mit dem lateinischen Alphabet, hat dagegen eine viel breitere Basis von grafischen Elementen zur Verfügung. Aber nicht nur das: In den Kanjis, die die japanischen Visuellen als Basiselement mitbenutzen, ist bereits Walter Ruprechter Zur „Japanischen Visuellen Poesie“ etwas gegeben, was für europäische Visuelle schon das Ziel ihrer poetischen Bemühungen ist, nämlich eine Bedeutung in einem Bild zu vermitteln.

 

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Shutaro Mukai, Bamboo-Notes, 1974, Serigrafie


Diese bereits alltägliche visuelle Poesie der japanischen Schrift als solcher bietet den japanischen Künstlern natürlich eine andere Ausgangslage als den Europäern und auch eine andere Aufgabe, die Prof. Shutaro Mukai, einer der führenden konkreten Künstler in Japan, so bezeichnet hat: „Für uns Japaner besteht die Notwendigkeit, unsere eigene Sprache zu dekonstruieren.“ Für diese Dekonstruktion, was so viel bedeutet wie das Zurückführen einer Bedeutung auf die Bedingungen seiner Konstitution, gibt es in der japanischen visuellen Poesie zwei Wege, die von je einer Künstlergruppe eingeschlagen wurde. Die eine, auf den Spuren Kitatsonos und der Gruppe VOU, versucht die Dekonstruktion, indem sie das grafische Repertoir der japanischen Schrift um andere grafische, malerische und fotografische Elemente erweitert und auf diese Weise das konventionalisierte Aufzeichnungssystem überschreitet. Und die andere Richtung um die Gruppe ASA versucht, aus den Zeichen der japanischen Schriften neue Ausdrucksqualitäten zu gewinnen und damit die Ausdruckskonventionen zu unterlaufen. Für beide Richtungen gibt es in dieser Ausstellung Beispiele. ...

 

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Josef Linschinger / Eugen Gomringer, aus: an exercise in contamination, 2003, Inkjetprints

 

Besonders hinzuweisen ist hier aber auf die Arbeit Josef Linschingers, da sie auf seine absolut konsequente Art und Weise eine Verbindung zwischen der europäischen und der japanischen visuellen Kunst darstellt. Sie zeigt auch den reduktionistischen Rigorismus und die strenge Enthaltung von jeglicher subjektiver Aussage, die für die konkrete Kunst typisch sind. Linschinger hat in einem Dreischritt die Vokale des Alphabets A, E, I, O, U mit den entsprechenden Kana-Zeichen für die gleichen Lautqualitäten gekreuzt, wobei die einen horizontal und die anderen vertikal angeordnet sind, entsprechend der Schreibgewohnheiten der beiden Kulturen. Er hat weiters die Farben verwendet, die den Lauten im Farbspektrum zukommen, also Gelb für den hellsten Laut I, Blau für den dunkelsten Laut U, und darüber hinaus noch eine weitere Codierung durch Überlagerung mit dem Bar-Code vorgenommen und das ergibt dann die stark farbigen Blätter, die sie hier sehen.
Gerahmt wird das ganze von einem Exerzitium des Altmeisters Eugen Gomringer, der schon einmal als der Vater der Konkreten Poesie bezeichnet wurde. Das Exerzitium, geschrieben in Abwandlung der berühmten Zeilen von Gertrude Stein, die man dann als Großmutter der Konkreten Poesie bezeichnen müsste, nämlich der Zeilen „a rose is a rose is a rose”, weist darauf hin, was für ein Buchstabe für die Konkreten 
ist: Ein Buchstabe, ein Laut, eine Farbe und ein Code. Für mich war bei dieser Arbeit überraschend zu sehen, dass die Kana-Zeichen viel abstrakter wirken als das Alphabet und dessen Buchstaben im Kontrast dazu geradezu bildliche Qualitäten entwickeln, der Kreisring des O, das Dreieck des A, auch das E wird als Figur lebendig, die ich sonst nicht so wahrnehme.
Das führt mich zu einer Schlussbemerkung: So streng antisubjektivistisch und objektiv die konkrete Kunst sich auch gibt, ihre Rezeption ist immer ein Spiel mit dem Leser bzw. mit dem Betrachter. Die Bedeutungen, die sie „dekonstruiert“, muss er sich aus den Elementen wieder rekonstruieren. Das ist keine Gleichung, die einfach aufgeht, man kann und muß viel herumprobieren und kommt dabei nicht immer zum Ziel oder man kommt zu vielen Zielen. Aber es macht den Reiz dieser interkulturellen Kunstform aus, dass man sich auf das Spiel mit den Bedingungen der Konstitution von Bedeutung einlässt.
Probieren Sie es selbst aus.

 

Walter Ruprechter
Geb. 1952 in Matrei/Osttirol. Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte an der Uni.Wien. Promotion über Konrad Bayer. Seit 1992 Professor an der Tokyo Metropolitan University. Publikationen zur spach- und erkenntniskritischen Literatur, der Wiener Moderne und zum Kulturaustausch zwischen Japan und dem Westen.

 

erschienen im etcetera Nr. 57 / konkrete Poesie / Oktober 2014