73/Höhle/Essay:Wolfgang Mayer König: Die Höhlen des Gral

Wolfgang Mayer König

 

DIE HÖHLEN DES GRAL

Eine wahre Dichtung      

 

Verborgen in der gebirgigen, unwegsamen Felsenlandschaft, an verdeckten Stellen unter Felsabhängen oder unsichtbar durch überhängende Felsvorsprünge, befinden sich die Höhlen des Gral.  

Hierher wurde dieses steinerne Gefäß gebracht und sein Versteck  an die jeweilige Bedrohungsgefahr angepasst. Die meisten dieser Hohlräume waren ausreichend groß, um von Menschen betreten zu werden, in sie anhaltend einzudringen, ihre Verzweigungen zu erkunden, und einen vom Höhlenmund ausreichend entfernten Ausstieg als Fluchtweg zu benützen; sollte etwa ein uneingeweihter Schafhirte einem böswilligen Kundschafter den Weg zu den Steilpfaden oder die Vorwerke weisen. Auch nützten wir die Felsspalten und Bruchfugen als Zwischenlager und einstweiliges Versteck. Für seine vorübergehende Aussetzung zur Verehrung des Grals nutzten wir auch Ausbrüche im Fels, deren Tiefe geringer war als die Breite des Höhlenportals, sodass diese im vorderen Bereich keinen lichtlosen Anteil aufwiesen. Im Zustand der Gefahr oder gar der Umzingelung war es uns so jederzeit möglich, durch dahinterliegende, weit verzweigte Höhlengänge zu entkommen. Immer war und blieb das steinerne Gefäß bei uns. Wir nahmen es auch überall hin mit. Einer der Ausgänge war durch Versturz entstanden und war durch dichten Bewuchs unkenntlich. Die meisten der Höhlen blieben trocken, einige waren von Bächen durchflossen, die bei Unwettern zu reißenden Flüssen anschwollen. Trotz alledem konnte uns auch die Kraft des Wassers von einer Flucht vor Bedrohung nicht abhalten. Wir hatten ja das steinerne Gefäß bei uns; wir verehrten und liebten es. Jenen einfachen und doch so kostbaren Becher. Während unseres Gebets stand er hoch über uns, dort, wo wir ihn in ehrfürchtiger Distanz zu unserem Niederknien aufgestellt hatten. Dann aber auf abenteuerlichen Wanderungen und Reisen, oder wenn wir, wie schon so oft, auf der Flucht waren, bargen wir ihn in unseren Gewandbäuschen, drückten ihn fest an uns, herzten ihn geradezu, sowohl aus inniger Zuwendung als auch in Folge praktischer Überlegung, dass er so beim Gehen nicht hin- und herschlenkern konnte. Dieses weichgeschwungene Gefäß, welches auch im leeren Zustand so viel Vollkommenheit, Nähe und Wärme über den zart geschwungenen Rand, wie über vertraute Lippen brachte. So holte es uns Vater und Mutter zurück, die wir bis dahin nicht wirklich kannten. Es brachte jeden für sich und brachte beide zusammen. Wir waren erstmals eine Familie, waren es für länger, wenn nicht für immer. So führten wir auch das Bemühen jedes Einzelnen von uns auf das steinerne Gefäß zurück, natürlich auch das Entstehen gemeinsamen Bemühens. 

Wir bedurften nicht eines Höhlengleichnisses, wir fanden uns als Zusammengeschlossene wieder, und verspürten die Lust und das Bedürfnis, uns noch enger aneinander zu schweißen, nicht nur bei drohender Gefahr. Die ruhenden, gleichwie die bewegten Gegenstände, warfen zwar Schatten auf die Höhlenwand, nicht so das steinerne Gefäß. Es stand da in seiner Reinheit und Klarheit, die von keiner Menschenhand stammen könnte. Bei solch spürbarem Höchstmaß an Souveränität und Autonomie spielte plötzlich auch die erdrückende Wirklichkeit keine Rolle mehr. Was könnte wirklicher, wirksamer sein als das!  Denn während uns beim Ausstieg aus der Höhle tagsüber jedesmal das Licht blendete, weil sich unsere Augen und unser Gehirn schon so sehr an das Dunkel der Höhle gewöhnt hatten, ging vom steinernen Gefäß ein Licht aus, das uns angenehm und unaufdringlich begegnete, uns durch und durch erfüllte. Deshalb nahmen wir alle Unwegsamkeiten, Strapazen und Erschöpfungen auf uns, wenn wir nur wieder unserem steinernen Gefäß in Ruhe und Geborgenheit nahe sein könnten, obwohl es ja ohnehin immer und überall bei uns war. Denn Stille ist die Musik der Erkenntnis.

Woher kam dieses Gefäß? Woher stammte es? In einem ägyptischen Steinbruch, einer Lagerstätte von Achat, Onyx und Chalcedon, alles Varietäten des Quarzes, wurde dieser Stein gewonnen und in Alexandria zu diesem kelchförmigen Becher verarbeitet. Alexandria stand mit Jerusalem in reger Handelsbeziehung.  Ein wohlhabender Jude erwarb ein Tafelgeschirr aus diesem Stein für festliche Anlässe, deren Bestandteil dieser Steinbecher war. Für die Juden waren Gefäße aus Stein Zeichen der Reinheit. Zum Pesachfest überließ oder vermietete er, wie dies durchaus Sitte war, an Freunde einen geräumigen Speisesaal und das dazugehörige festliche Tafelgeschirr, ausreichend für die Anzahl der Teilnehmer am Festmahl. 

Für  Juden bedeutete ein Becher zum Pesachfest die Verkörperung des Glücksgefühls nach der Befreiung der Israeliten von Unterwerfung, Verfolgung und Sklaverei. Der Tischgesellschaft begegnen wir auch am Ölberg. Dort schlafen die Jünger ein, und ihr alleingelassener Herr und Meister fleht, seinen Leidensweg vorwegnehmend, ob nicht dieser Kelch, auch als Zeichen bevorstehender qualvoller Probleme, an ihm vorübergehen könne? Wenn man bedenkt, dass der Name des Pesachfestes „Vorübergehen“ bedeutet, schließt sich der Kreis, laufen alle Erkenntnisse zusammen. Alles andere wissen wir, kennen wir, es unterliegt vor allem der Wandlung unseres Denkens und Empfindens, unserer Geistes- und Gemütsverfassung, aber auch unseres Charakters. 

Das steinerne Gefäß, der Kelch, steht ein für das aufopfernde Leid des Menschensohns als Erlösungstat. Das, was bei diesem Familienfest, dem Ostermahl in Gemeinschaft mit seinen Jüngern stattfand, unterliegt dem Geheimnis der Wandlung. Es geht nicht österlich vorüber,  sondern es passiert eine Wandlung von Wein in unserem steinernen Becher in Blut, das kurz darauf, am Kreuz vergossen, aus einer Lanzenstichwunde zur Todesfeststellung austrat, und von Josef von Arimathäa, mit eben diesem Becher aufgefangen wurde. Dieselbe Wandlung vollzieht sich zwischen Leib und Brot, um dieses Liebesmahl zu SEINEM Gedenken über all die Zeit zu wiederholen, mit dem Versprechen und der Gewissheit, dass ER alle Zeit unter uns weilt. Uns musste die Transsubstantiation nicht verständig gemacht werden. Wir wussten nichts und fühlten alles. Wir brauchten auch nicht zu glauben, denn wir wussten es durch unser Fühlen. Trotzdem kamen uns immer wieder Zweifel. Nicht am Charakter des steinernen Gefäßes, sondern warum derjenige, der daraus trank, nicht mit der nachfolgenden Erlösungstat verhindern konnte oder wollte, dass all die Zeit danach unfassbares Leid und Greuel abermillionenfach die Menschheit heimsuchen sollten. Ermordung, Enthauptung, Kreuzigung, Tötung und Missbrauch von Kindern. 

Wem dient also der Gral? 

Wem nützt der Gral? 

Warum konnte dieser durch Heiligung kraftvolle Stein nur so viel Reinheit verkörpern und so viel Verderbtheit und Grauen zulassen? 

Warum konnte dieser Kelch, dieser ewige Stein des Anstoßes, nicht an uns allen, an der gesamten Menschheit vorübergehen? Und wenn hier die Antwort wäre: Gott lässt sich nicht zwingen, kann unser Entgegnen nur lauten: Warum lässt er uns gleichzeitig aber alles erleiden? Warum musste immer unsere Freude so zerrinnen? 

Trotzdem brachten wir es nicht über uns, die Konsequenz zu ziehen, und uns wissentlich vom steinernen Gefäß fernzuhalten. Ich weiß nicht, ob man es als Entbrennen solcher Minne bezeichnen kann, die stärker sein könnte als alles Leid. Jedenfalls sollte eine zwei Jahrtausende anhaltende Hysterie entbrennen, den Gral, das steinerne Gefäß zu suchen und zu finden, obschon es auch einige Wenige gab, die hofften, dass der Gral nie gefunden werde. 

Nicht unsere schlechte Erziehung, nicht der Einfluss unserer Umwelt und nicht unsere Tagesverfassung, sondern unsere Angst vor der Absurdität dieser Widersprüchlichkeit bedingten unser Versäumnis, die Mitleidsfrage zu stellen. Wir waren anständig genug, nicht zu fragen: „Und wer hat Mitleid mit uns, mit mir?“ Wir konnten und wollten fürs Erste weder mit dem Leid der anderen noch mit unserem Leid umgehen. Weil wir nicht Kenntnis darüber erlangten, was da mit uns geschieht, wie und warum es geschieht. 

Wie konnten wir da auch mit der Welt umgehen?  

So wie der kranke Gralskönig einem Neuankömmling gleich sein Schwert schenkt, weil er es ohnehin nicht mehr braucht, und der so Beschenkte nicht kapiert, dass ihm damit soeben indirekt sowohl Ritterschlag als auch Krönung angedient und sogleich auch an ihm vollzogen wurde. Auch wir brauchen das alles nicht mehr, weil alle Duldsamkeit zu Ende verspürt ist, alle Schmerzen und Verletzungen, Kränkungen, Krankmachungen und Vereinsamungen. Warum erlöst uns eine einzige Fragestellung mit vorheriger Ladehemmung nicht genauso wirksam wie den siechen Gralskönig?  Und all‘ diese ewig wiederholten, gleichlautenden Fragen führen irgendwann dazu, dass wir dem steinernen Gefäß und was wir damit verbunden wissen, den Dienst, das Lehensverhältnis aufkündigen. Weil wir uns schon längst darüber im Klaren sind, dass, wenn Gott sich nicht zwingen lässt, er genauso wenig ein Tauschgeschäft mit uns eingehen wird, nach dem Motto: „Wenn Minne mich belohnt, so tue ich gern Gottes Gebot“. Oder hieß dann doch die erlösende Frage des Mannes, dem alle Freude vergangen war,  und der nur mehr nach Erbarmen schrie:  Wem nützt, wem dient der Gral?  Petrus und die ersten Christen sammelten sich um das steinerne Gefäß, brachten es nach Rom, verbargen und schützten es vor der Christenverfolgung. Der aus Spanien stammende Laurentius wurde vom, die Christenverfolgung besonders perfektionierenden,  Kaiser Valerian gezwungen, die Kirchengüter sofort herauszugeben. Er reagierte prompt, entzog das steinerne Gefäß den illegalen Machenschaften und der Willkür des Kaisers, und ließ es in seine Heimat Spanien verbringen. Dort wurde es von Beginn an in Höhlen versteckt, geborgen und aufbewahrt. Niemandem und Allen diente also in direkter Wirkung der Gral, er nützte auch Allen oder Niemandem. Als dann der König von Aragon und Navarra Alfons I., sein Namen lautet auf Lateinisch: Anfortius verwundet und sterbenskrank  nach San Juan de la Peña auf den Mons Salvatoris gebracht wurde, war er der echte historische Anfortas, der Gralskönig. Alfons I. hatte einen Vetter Rotrou II. Perche-Val, der ihn oft begleitete, dessen Mutter ihren Mann verlor, kurz gesagt, es ist der echte historische Parzifal. Und alles liegt und steht noch so, wie es damals war. 

Die Klosterburg des Grals einer riesigen Felshöhle entrungen. Die zahlreichen Höhlenverstecke in der Felsenlandschaft. Der unbeschreiblich ausgestaltete Säulengang, wo die Gralsprozessionen stattfanden, all die Felsenstufen und prunkvollen Tore. Die untere Kapelle und die obere. 

Die Taufquelle, welche der Felsenwand der Kapelle entspringt und sich über die Seitenfront des Raums ergießt, im Laufe der Zeit von Sinter und Tropfstein untermauert. Es steht alles noch da, die Nische und der Altar für den Gral  in der unteren Kapelle, der Altar für die Eucharistiefeier in der oberen Kapelle. 

Auch die Urkunden gibt es, die das steinerne Gefäß, den Gral wörtlich nennen, die Kapelle nennen, aber auch Anfortas und Parzifal. Was das alles also schon gar nicht ist: nur Sage, nur Dichtung. Es ist, sprechen wir es einmal aus, nicht mehr und nicht weniger, als aufgerufen und eingeladen zu sein, mitgenommen zu werden zum letzten Liebesmahl. Zumindest in diesem Punkt kann man sich nicht auf mangelnde Fürsorge berufen. Beim gemeinsamen Mahl sollen alle Widersprüche, Verfehlungen und internen Rivalitäten vergessen sein; selbst der verräterische Judaskuss ist vergeben und vergessen. 

Warum soll dann alle Freude zerronnen sein ? Warum muss denn alles jemandem dienen oder nützen? Nach dem Mahl wird ein Familienfest gefeiert, widmen sich Menschen aufopfernd anderen Menschen, wie vor, mit und nach dem Menschensohn. So lautet die Mitleidsfrage: Compassio, Leid begreifen und gemeinsam das Leid tragen und ertragen, nicht allein. Und während wir so in’s Freie treten, überwältigt uns schon die Schwüle der Hitze und das grelle Sonnenlicht. Kaum hatten wir uns wieder an diese Art von Helligkeit gewöhnt, erblickten wir aus einigem Abstand in der gegenüberliegenden, überhängenden Felswand, aus einer Spalte leuchtend, ein Licht, ein wirkliches Licht, ich habe es fotografiert, diesen  unvergleichlich sanften,  milden und beständigen Lichtpunkt in dieser nach wie vor unwegsamen Felsenlandschaft. 

Wolfgang Mayer König

Geb.1946,  Schriftsteller, Univ.Professor. Lebt in Emmersdorf/NÖ; Begründer des Österr. Universitätsliteraturforums Literarische Situation, Gründer/HG der Literaturzeitschrift LOG, Ständiger Delegierter bei den Vereinten Nationen, Koordinator der humanitären Wiederaufbauhilfe in Vietnam, Verfasser des Österr. Zivildienstgesetzes, Autor von 46 lit.Büchern,  Theodor Körner Preis, OÖ Kulturmedaille f. Literatur, Chevalier des Arts et des Lettres/ Rep. Frankreich, Österr. Ehrenkreuz f. Wissenschaft u. Kunst I. Kl., Mitgl. der Akad. d. Lit. u. Künste: Tiberina Rom, Cosentina Cosenza, Burckhardt St. Gallen, Europa Viterbo. Ehrenobmann der Literarischen Gesellschaft St.Pölten seit 2006.

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Gralshöhle in Yebra de Basa (Aragonien)
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Riesenhöhle der Gralsburg in San Juan de la Peña
Riesenhöhle der Gralsburg in San Juan de la Peña

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Der historische Säulengang der Gralsprozession in der Gralsburg
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