96 / Erinnerung / Essay / Tatjana Eichinger: Gedanken zur Biografiearbeit
Arbeiten an und mit den eigenen Erinnerungen
Erinnern ist mehr als ein Lebenslauf, ein Geschichtsbuch gespickt mit Daten, Zahlen und Fakten. Erinnern ist sinnlich! Der Duft frisch gebügelter Wäsche, der Klang eines VW-Käfers, die Berührung alter Buchrücken, die 60er Jahre Tapete oder der Geschmack frisch gepflückter Walderdbeeren lassen mich in die Geschichte meiner Ahnen oder in die eigene eintauchen. Inhalte fließen, nehmen Konturen an. Zusammenhänge werden erschlossen, Lebensgeschichten erzählt, aufgeschrieben, oder auch wieder vergessen. Fakten erhalten subjektive Bedeutung. Aus dem Unterbewusstsein zu Tage gebracht, werden Lebensereignisse eingebettet in die Zeitgeschichte und in soziokulturellen Kontext. Es sind keine wirklichkeitsgetreuen Rekonstruktionen der erlebten Situationen und doch gibt es die gegenwärtige Wahrheit, das Empfinden, die Konstruktion und das Verständnis des Vergangenen wieder.
Zahlreiche Autobiografien ziehen Lesende in ihren Bann. Erinnerungen werden für die Nachwelt erhalten, egal ob chronologisch angelegt, thematisch, oder fragmentarisch- die
Nähe zum biografischen Roman ist fließend. Das Leben wird spielerisch befragt, detailliert erkundet und in Segmenten erzählt (Josef Ortheil: Schreiben über mich selbst, S.5). Ereignisse werden nicht nur aneinandergereiht, sondern in einen Kontext zu zeitgeschichtlichen Ereignissen oder Personen gesetzt. Autobiografisches Schreiben bietet die Möglichkeit, vergangene Ereignisse und Erfahrungen zu verarbeiten, insbesondere die belastenden oder traumatischen. Durch das reflektierte Betrachten werden neue Perspektiven und ein heilsamer Umgang mit schwierigen Lebenssituationen gefunden. Schreiben bietet den Aspekt der Selbstbestimmung. Autorenschaft bedeutet Autorität, sagt Gundula Ritz-Schulte in: Autor des eigenen Lebens werden. S.104: Als Autor (…) benötige ich künstlerische Freiheit, um meine Geschichte nicht nur erzählen, sondern deren Fortsetzung auch gestalten zu können. So ist ein selbstbestimmter Mensch gleichzeitig Autor und Online-Regisseur des eigenen Lebens. Wer Autor seiner eigenen Geschichte sein will, dem sollte die Selbstbestimmung am Herzen liegen.
Erinnern ist sinnlich! Nicht alle Erinnerungen sind im bewussten Gedächtnis frei zugänglich, manche tauchen verschlüsselt in Träumen auf, und wieder andere werden erst durch ähnliche Körperempfindungen oder Sinneseindrücke wiederbelebt. Der Körper dient als Speicher der Lebensgeschichte. Diese bleibt gegenwärtig in vertrauten Bewegungen, Gerüchen und Geräuschen - auch, wenn der Ursprung dieser Vertrautheit nicht mehr bekannt ist. Tanzverschafft einen Zugang zum Körpergedächtnis. Durch das Experimentieren mit verschiedenen Bewegungen zur Musik ist es möglich in die Gefühle und Stimmungen vergangener Erlebnisse einzutauchen und diese in neue Bedeutungszusammenhänge zu stellen.
Erinnern heißt auch Lernen: In unserer heutigen Gesellschaft ist es nicht mehr selbstverständlich, dass Wissen von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Einmal erworbenes Wissen reicht nicht mehr für ein ganzes Leben aus. Auch Traditionen und Werte werden nicht mehr automatisch übernommen. Wir erleben Situationen, die neue Handlungsstrategien erfordern. Inmitten dieser Veränderungen stellen sich die Fragen: Wer bin ich, wie bin ich der oder die geworden und was will ich? Die Arbeit an und mit der Biografie, das Erinnern und darüber Erzählen, der Verarbeitungsprozess, bei der aktiven Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensereignissen, hilft zu verstehen, warum man die Person geworden ist, die man heute ist. Es hilft, die Identität zu formen und zu festigen. Indem ich mir meiner Vergangenheit bewusst werde, kann ich besser verstehen, was mich ausmacht und welche Werte, Überzeugungen und Ziele mir wichtig sind.
Biografisches Lernen bezieht sich auch darauf persönliche Erfahrungen, Erinnerungen und Lebensgeschichten anderer als Grundlage für Lernprozesse zu nutzen. Ein großer Bereich ist die Arbeit mit Zeitzeugen. Häufige Themen sind die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, aber auch Migrationserfahrung oder Geschlechteridentität. Es geht darum die individuellen Lebenserfahrungen zu reflektieren und in den Lernkontext anhand von Interviews, Lebensgeschichten und Autobiografien einzubeziehen.
Erinnerungen sind sinnlich! Sie riechen nach Moos und Apfelstrudel. Schmecken nach Hustensaft und Papas Dillsauce. Sie klingen nach Rollschuhen am Asphalt und Pumuckl auf Audiokassette. Ich spüre die Fliehkraft am Kettenkarussell und die Anspannung im Klassenzimmer. Ich höre, empfinde, sehe und taste mich durch das Labyrinth meiner Erinnerungen. Lerne mich kennen, Erinnerung für Erinnerung, verarbeite, verstehe, verdränge, schreibe auf, streiche durch, ergänze, erörtere Möglichkeiten, Ziele, Visionen. Meine Geschichte bleibt und doch erfinde ich mich darin immer wieder neu. Tanze und drehe mich im Kreis und vertraue, dass, wenn der Kopf nicht mehr führt, der Körper übernimmt.
Tatjana Eichinger
Sozialpädagogin, Bildungs- und Berufscoach, Lebt und arbeitet in St. Pölten. Redakteurin und Vorstandsmitglied der LitGes