LitArena XI / Etcetera 92 / Essay / Hermann Niklas: Was Literatur kann

Literatur ist ein intimer Ort, in dem ich mich verliere.
Sie ist zunächst Rhythmus, sie ist ein Sehnen, ein Sprechen in die Stille.
Und dann will ich kein Wort sagen, sie nicht zerplatzen lassen.
Sie ist Trost.
Wenn ich über Literatur nachdenke, die über die Welt nachdenkt, denke ich über mich nach. Wie ich zur Welt in Beziehung stehe und trete und in ihr selbst werde. Wie die Gestalt der Welt mich betrifft, in mein Leben drängt, sodass ich immer reagieren muss (mit Sprache).
Ich denke an den Raum, der sich zwischen meinen Körper, meinen Kopf, meinen Händen, meinen Blättern und Screens, meinen Stiften und Tasten bildet, an den Raum, der Worte gebiert, Worte zulässt, sich auf Worte einlässt, denen ich staunend folge. Der sich bildende Raum ist immer Versenkung und wenn ich aus ihr erwache, weiß ich, dass ich geschrieben habe, dass es Literatur ist. Und sie ist Literatur, weil sie nicht sagt, wo sie hinwill, wo sie mich hinbringt. Es gibt kein Konzept für Literatur, denn sonst wäre es nicht Literatur, keine fertigen Schablonen, nach denen man vorgehen könnte.

Schreiben ist für mich also ein intimer, spiritueller Raum.
Schreiben ist aber auch ein politischer Akt. Ich finde eine Sprache für meine Wahrnehmung der Welt, ich übersetze im Schreiben, will es verstehen, was ich sehe. Ich will mich mitteilen. Ich spreche die Worte, publiziere sie, suche eine Öffentlichkeit, der ich sie präsentiere. Ich stelle sie der Gesellschaft zur Verfügung, damit die Worte dort weiterwirken, wie sie in mir wirkten, und zu anderen Worten werden, die wieder auf mich zurückwirken. Auch ohne politischen Inhalt ist literarisches Schreiben politisch, es kann nicht nicht politisch sein.
Und wenn ich an Literatur denke, denke ich vor allem an Lyrik, an die dichten und klaren Bilder, ans Malen mit Sprache, die ihr kognitives Verstehen hinter sich lässt, um zu ihrer Bedeutung zu gelangen. Denn ein Gedicht ist nie fertig. Gedichte zu schreiben ist eine sehr partizipative Art zu schreiben. Ein Gedicht wird nicht von Autor*innen geschrieben, es wird in den Köpfen der Lesenden oder Hörenden zu Ende geschrieben und zu vielen, das Gedicht wird in jedem Kopf ein neues Gedicht.

Was Literatur kann? Alles und nichts und zwar gleichzeitig.

Schreiben ist aber nicht nur ein beinah normaler Beruf, er ist auch eine Einstellung, die ich nicht absichtlich getroffen habe, die mich immer wieder überrascht, die ich nicht mehr ablegen kann. Das Schreiben hat etwas eröffnet, etwas erahnen lassen, etwas versprochen, dem ich mich in ihrer Möglichkeit nicht verschließen kann: Es steht etwas bereit!

Als Politischer Bildner arbeite ich gerne mit Methoden aus der Schreibpädagogik, zum einen weil ich Schriftsteller bin und so meine beiden Berufe miteinander verbinden kann, anderseits weil ich sehe, dass literarische Methoden mehr beziehungsweise anderes bewirken als andere Methoden, ein paar Blitzlichter:

Ich arbeite in einer Wohngemeinschaft mit 12-jährigen Kindern, die aus ihren Herkunftsfamilien genommen wurden, um ihnen ein kindergerechtes Leben abseits von Aggression und Gewalt zu ermöglichen. Eine unruhige Gruppe, die ich im Rahmen eines partizipativen Forschungsprojekts über einige Wochen begleite. All unsere Methoden sind gut gewählt und durchdacht, dennoch bleibt es chaotisch, Türen knallen, Menschen verlassen den Raum, sie kommen wieder, schreien sich an oder schlagen sich sogar. Einzig bei einer Storytelling-Methode werden die Kinder plötzlich ruhig, verändern ihre Position und bereiten sich vor, eine Geschichte zu hören.
Ein Mensch mit Fluchtgeschichte arbeitet intensiv und sehr nah mit mir an der Übersetzung von Gedichten aus seiner alten Sprache in seine neue Sprache. Alle Deutschkurse zuvor waren mühsam für ihn, seine Gedichte übersetzen zu können wurde ihm ein wichtiger Ansporn.
Ein Lehrling ist mit beinahe 18 Jahren zu Tränen gerührt, nachdem er seinen Text in das Aufnahmegerät gesprochen hat. Es war ein literarisch-philosophischer Text, in dem er versucht, sein Leben einzuordnen. Ich kommentiere nur kurz: Der Text ist gut und perfekt eingesprochen. Die Tränen kamen, weil er von mir gelobt wurde. Er wäre noch nie gelobt worden, erklärt er sich, für etwas das er getan oder gesagt habe.
Auch das letzte von bisher fünf Projekten, die ich mit dem Verein Sapere Aude an der Schnittstelle von Politischer Bildung und Literatur umgesetzt habe, die Wutbox, schlägt in diese Kerbe: Die Stimmen der Jugendlichen und ihre Wut auf politische Rahmenbedingungen werden gehört, indem renommierte Schriftsteller*innen ihre Wutreden aufgreifen und zu Kunst transformieren.

Literarische Methoden, Geschichten, Storytelling holen Jugendliche dort ab, wo sie sonst allein gelassen werden. Und sie schaffen das Angebot, mit der eigenen Stimme zu sprechen und auch gehört zu werden. Und das Sprechen und Gehörtwerden halten wir in der Politischen Bildung für essentiell für die Entwicklung der eigenen Identität junger Menschen. Wir literarisch Schreibenden sind die Grundlagenforscher*innen der Sprache und ihrer praktischen Anwendbarkeit, ihrer achtsamen Empathie und ihrer Utopie: Wir sehen, wie notwendig wir sind und wir sehen, wie prekär wir arbeiten.
Wenn zu den Pandemie-Lockdowns mit der Schließung sämtlicher kultureller Einrichtungen auch noch mittels Blackout das Internet mit all seinen Plattformen ausgefallen wäre, es blieben in den Häusern nur Bücher, Gedrucktes, Zeitungen, Kochbücher, Betriebsanleitungen, Literatur eben. Tatsächlich bekam man damals einen Eindruck davon, wie wichtig Kunst für die Menschen ist und wie wichtig auch Literatur und das geschriebene Wort für so viele unterschiedliche andere Kunstdisziplinen. Wenig Kunst kommt ohne sprachlichen Ausdruck aus.
Die öffentliche Wertschätzung, die in unserer Gesellschaft anhand von finanzieller Zuwendung gemessen wird, widerspricht der Bedeutung von uns Spracharbeiter*innen für Sprache und Gesellschaft.
Wie mächtig Sprache ist, zeigt sich aber auch in ihrer Gefahr. Ob das Politiker*innen sind, die trotz ihrer Nähe zu Rechtsextremismus und nationalsozialistischen Gedankengut in einer Landesregierung oder Bundesregierung hohe Ämter bekleiden, ob das digitale Sprachnachrichten sind, die in einer Bundesregierungspartei strategische Korruption offenlegen.
Ob das Verschwörungstheorien oder extremistische Tendenzen in der Demokratie (und damit auch die Radikalisierung von Sprache) sind, die in der Politischen Bildung seit einigen Jahren Themen der meistgebuchten Fortbildungen für Pädagoginnen und Pädagogen darstellen.
Gewalt passiert nicht aus heiterem Himmel, sie beginnt immer mit Sprache. Dadurch ist Literatur als Hüterin eines achtsamen Umgangs mit Sprache besonders wichtig und muss auch deshalb gefördert, unterstützt und für die Gesellschaft als unabdingbar erachtet werden. Denn das ist sie, ob man will oder nicht.

Was Literatur kann ist aber vor allem auch Räume zu schaffen, zunächst für uns Schreibende und dann für die ganze Welt.

Denn Schreiben ist ein Raum, der viel für uns bereithält:
Einen intimen Raum, in dem wir uns und Geschichten und Menschen begegnen. Einen wohlwollenden Raum, in dem wir uns selbst, in dem wir andere und deren Positionen annehmen, aber auch widersprechen, einen mit sich selbst und anderen einfühlsamen und dadurch versöhnlichen Raum, einen sprunghaften Raum, der Gräben überwindet und in andere Räume hineinspringt, einen Raum mit vielen Türen, in dem die meisten noch verschlossen sind.

Ich wünsche uns allen viele Türen, die sich schreibend öffnen lassen und ebenso viele Türen, die noch verschlossen bleiben.