Stein / Etcetera 89 / Essay / Bülent Kacan: Die Freiheit des Sisyphos

Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben.1
Robert Musil

Es ist nicht die Realität, die dem Möglichkeitssinn Grenzen auferlegt, es ist ein beschränktes Realitätsverständnis, welches Möglichkeiten einhegt, die in Wahrheit grenzenlos sind. Der Traum stellt eine besondere Form des Übergriffs dar: Er reißt, angesiedelt in der Traumlandschaft des Träumenden, die Grenzen einer Wirklichkeit nieder, in der die Dinge für gewöhnlich kaum oder keinerlei Berührungspunkte aufweisen, während sie im Traum mitunter phantastische Allianzen eingehen. Dieser Sachverhalt stellt, wie wir meinen, auf anschauliche Weise dar, weshalb die Despoten dieser Welt Träume, Visionen und Utopien fürchten: Sie bringen ihr Ordnungsverständnis, das auf starren Hierarchien und Gegensätzen basiert, nicht nur durcheinander, sie führen es ad absurdum. Schließlich ist es nachgerade die despotische Welt, die alptraumhafte Züge annehmen kann, in welcher sich das sogenannte Gute auf der einen sowie das vermeintlich Böse auf der anderen Seite unversöhnlich gegenüberstehen. Der Fall des Eisernen Vorhanges ist Geschichte. Der Kalte Krieg ist unlängst passé. Das Arsenal an Massenvernichtungswaffen, wir müssen dies in aller Nüchternheit konstatieren, existiert allerdings nach wie vor. Auch ist die projektive Schwarzweißmalerei, die den extremen politischen Ideologien eigen ist, nicht aus der Welt, sie wird auch eine multipolare Welt in Atem halten. Wir denken hierbei in erster Linie an die religiösen Hardliner der Islamischen Republik Iran, die das Existenzrecht Israels aberkennen. Wir denken aber auch an die christlichen Fundamentalisten in den USA und ihren Einfluss auf die Nahost-Politik. Auch schickt sich Russland zu Beginn des neuen Jahrtausends an, mit Waffengewalt zur alten imperialen Größe zurückkehren zu wollen. Wie sich der hegemoniale Anspruch Chinas im Lauf des 21. Jahrhunderts äußern wird, bleibt abzuwarten. Angesichts seinerstetig steigenden Militärausgaben ist zu befürchten, dass das Reich der Mitte seinen imperialen Anspruch nicht gewaltlos umsetzen wird. Allerdings müssen wir mittlerweile von einem Reich der Mitten ausgehen, die ökonomischen Machtzentren Chinas lassen sich überall in der globalisierten Welt lokalisieren.
Die Apokalypse ist, wie wir glauben, eine fürchterliche Hypothese. Die Möglichkeit jedoch, dass die Menschheit ein abruptes Ende nehmen könnte ist - wir führen uns hierbei die Atomwaffenarsenale dieser Welt vor Augen - kein Phantasma. Diese Möglichkeit ist bereits für sich genommen ein Schreckensszenario, wir haben es nur nicht mehr auf dem Schirm. Es ist allerdings höchst unwahrscheinlich, dass die Welt demnächst untergehen wird. Wahrscheinlich wird es wohl so kommen, dass die Klimakrise, in der wir uns befinden, zu einer Klimakatastrophe führen wird. Die Möglichkeit, dass sich die Menschheit eigenhändig aus der Welt schafft, ist angesichts der drohenden Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes nicht von der Hand zu weisen. Wir halten fest: Es existieren Möglichkeitsformen, die, wie die despotische Welt, alptraumhafte Züge, im Fall eines Atomkrieges hingegen apokalyptische Ausmaße annehmen können. Nicht jeder Traum, nicht jede Vision ist per se willkommen – Dystopien haben in verdichteten Krisenzeiten Hochkonjunktur. Es sind insbesondere Verschwörungstheorien in Zeiten der Krise, welche Möglichkeiten des Niedergangs, des Untergangs, des Endes förmlich heraufbeschwören. Wir halten ferner fest: Nicht jede Möglichkeit ist per se ein wünschenswerter Fall. Dem Alptraum einer despotischen Welt, in der Despoten freien Zugriff auf Massenvernichtungswaffen haben, ist die Apokalypse gewissermaßen eingeschrieben. Mit
anderen Worten: Der Untergang der Menschheit als eine Möglichkeitsform unter vielen ist dem Alptraum einer Despotie, die Massenvernichtungswaffen einsetzt, inhärent. Auschwitz ist allerdings ein Fall für sich.
Die Hölle ist alles andere als ein Teufelswerk. Die Brutalität ihrer Machart übersteigt selbst die Vorstellungskraft des Teufels. Dem Teufel wird lediglich angelastet, wozu der Mensch nicht nur theoretisch in der Lage ist. Auschwitz ist keine Theorie, schon gar keine graue. Auschwitz ist die praktische Verwirklichung einer Hölle auf Erden, die der Vorstellungswelt des Menschen des 20. Jahrhunderts entspringt. Auschwitz ist, so banal es klingen mag, menschengemacht. Der aufgeklärte Mensch des 21. Jahrhundert fürchtet sich nicht vor dem Teufel und seiner Entourage, es ist sein Stellvertreter in Gestalt eines Mitmenschen, seines Nachbarn, des Menschen von nebenan, der ihm die Hölle auf Erden bereiten kann. Auschwitz legt Zeugnis darüber ab, dass dies möglich war und ermöglicht wurde. Die Krematorien sind stillgelegt. Auch entflieht kein Rauch mehr aus ihren Schornsteinen. Es ist dies allerdings eine trügerische Stille. Wer aufmerksam hinhört, der kann die Klagen noch immer vernehmen, die stillen und stummen wie auch die Klageschreie der mit Gewalt zum Schweigen Gebrachten. Das nicht enden wollende Wehklagen der Gewaltopfer, es schallt durch Raum und Zeit, es transzendiert seine eigene Geschichte, es wird gegenwärtig in jedem einzelnen Augenblick. Auschwitz bleibt gegenwärtig durch die Zeit hindurch, in gewisser Weise ist die Zeit in Auschwitz stehen geblieben. Die Opfer warnen den aufmerksamen Zeitgenossen, dem die letzten überlebenden Zeitzeugen des Grauens verlustig gehen. Nicht, dass sie ihn anklagen würden, sie mahnen und ermahnen ihn geradezu. Wir stellen bei alldem fest, dass der Teufel keineswegs im Detail steckt. Die Redewendung lügt. Sobald Gott und die Welt es zulassen, geht der Teufel vor allen Dingen systematisch vor. Die Akribie, mit der die Vernichtung der europäischen Juden geplant, organisiert und umgesetzt wurde, ist nicht das Perverse. Pervertiert ist vielmehr eine Menschheit, die diese Hölle zugelassen hat. Der Teufel geht allerdings nicht über Leichen, er überlässt es dem Tod. Dieser geht, sobald er System hat, über Leichenberge, er geht darin spazieren.
Eine Fotografie aus dem Jahr 1944, die es zur traurigen Berühmtheit erlangt hat, gibt Kundschaft vom Grauen. Der jüdische Lagerinsasse Alberto Errera hat es im Geheimen angefertigt. Wir entnehmen dieser Momentaufnahme des Schreckens - deren dokumentarischer Stellenwert darin besteht, das Grauen auf einem Bild festzuhalten und es der Mit- und Nachwelt vor Augen zu führen – wie der Tod, wir sprachen es bereits an, über Leichenberge geht, er geht darin spazieren. Wir wissen nichts Näheres über die Person auf dem Bild, in dem sich unsere Metapher vom Tod gewissermaßen inkarniert. Sie hat uns ihren Rücken zugekehrt, ihre Anonymität wird allerdings durch ihre Taten aufgebrochen. Wir gehen davon aus, dass es sich um ein jüdisches Mitglied eines Sonderkommandos handelt, das im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau an der Ermordung der Deportierten beteiligt war. Wir sehen, wie der Mann versucht, sich einen Weg durch die am Boden liegenden Leichen zu bahnen. Für einen Augenblick gerät der Mann in eine instabile Lage, er gerät ins Straucheln. Im nächsten Moment,
so scheint es, wird er über einen leblosen Körper stolpern. Möglicherweise kommt er bald schon selbst zu Fall. Es ist dieser unheimliche Seiltanzakt zwischen dem Tod der anderen und dem drohenden eigenen, der uns bedrückt und uns die Luft zum Atmen nimmt. Die Hölle Auschwitz, sie besteht auch darin, im Feuer der Krematorien, das für die anderen bestimmt ist, selbst eingeäschert zu werden. Die Nachzeitigkeit der Ermordungen ist im Fall Auschwitz eine tragische Gleichzeitigkeit, es gibt kein Entkommen. In der Gaskammer,
dieser auf wenige Quadratmeter verdichteten despotischen Welt, wurde auch der Möglichkeitssinn erstickt. Das Foto transzendiert den Augenblick, in dem es angefertigt wurde. In Auschwitz ist, wir sagten es bereits, die Zeit stehen geblieben. Die Heldentat eines Alberto Errera besteht für uns darin, den Mut aufzubringen, den industriell betriebenen Massenmord an den europäischen Juden auf Fotos zu bannen und einer Mit- und Nachwelt anzuvertrauen, die nach Worten ringt angesichts des unfassbaren Grauens.
Das Häftlingsorchester konnte nicht über den infernalen Ton hinwegtäuschen, der über Auschwitz lag, er lag bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Luft. Wir sehen die Soldaten in den Frontgräben bei Ypern liegen, wir sehen, wie sie ein letztes Mal nach Luft ringen, bevor sie die Augen verdrehen und elendig zu Grunde gehen. Der Ton des Inhumanen lag in der Luft. Es war kein schriller Schrei, etwas Unerhörtes war in die Welt geraten. Wir haben das markerschütternde Sirenengeheul der Stukas in den Ohren oder das Aufheulen der Stalinorgeln, wir meinen aber etwas ganz anderes. Hitler griff diesen Ton seiner Zeit auf, er lag griffbereit auf der Straße. Es war sein Sirenengesang, der den Ton des Inhumanen perfektionierte. Der Euphemismus bleibt das rhetorische Herzstück der Vernichtung. Hitler sprach ganz unverblümt davon. Wir sagten bereits, dass ein infernaler Ton in der Luft lag. Die Atmosphäre war zerrissen. Niemand war im Stande, sie zu schließen. Ein gieriger Schlund hatte sich aufgetan, er war unersättlich, es hätte die Menschheit darin Platz nehmen können. Wir stellen ernüchtert fest: Das Massengrab ist ein Menschheitsgrab. Die eiligst aus den Lastkraftwagen gezerrten Opfer, die man in zügig ausgehobenen Gräben kommandiert hatte, in denen sie der Reihe nach niedergeschossen wurden, sie ahnten das Unheil bereits. Das Entsetzen, das sich in ihren Gesichtern abzeichnete, es spiegelte sich nicht in den Gesichtern der Täter wider, die Väter, Brüder, Ehemänner waren wie sie, die Geliebte, Vermisste, Herbeigesehnte waren wie sie. Nicht die Gräben waren es, welche die Opfer von den Tätern trennten, es waren die unüberwindbaren Gräben in den Herzen der Täter. Es war der Ton des Inhumanen, der die Massenerschießungen erst ermöglicht hat.
Die Atmosphäre, wir sagten es bereits, war zerrissen, ein gieriger Schlund hatte sich aufgetan, darin die Menschheit hätte Platz nehmen können. Sobald sich die Hölle in ein Menschenherz einnistet, gefriert das Herz, es wird kalt, eiskalt darin. Ein kaltes Herz lässt sich schwer erweichen, ein gefrorenes ist unbarmherzig. Das Wimmern und Wehklagen der Opfer fand keine Resonanzräume in den stolz geweiteten Brusträumen der Täter. Es mag banal erscheinen wie das Böse, das nüchtern, sachlich, systematisch zur Tat schreitet, doch sind es nicht die Köpfe, um die im 21. Jahrhundert gerungen werden muss. Es sind die Herzen der Menschen, es ist ihre Liebe, ihre Hoffnung und ihr Glaube an das Gute... auch, ja, gerade auch im Menschen... deren Verlust erst eine Hölle auf Erden möglich macht. Der Politik muss das Primat des Herzens gewissermaßen selbst am Herzen liegen, möchte sie nicht in einen Duktus des Inhumanen verfallen. In einer despotischen Welt ist der Duktus des Inhumanen vorherrschend.
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland...
Er hat es hier zur traurigen Meisterschaft gebracht, hier hat er sein „Werk“ vollendet. Seine Gesellen üben allerdings fleißig weiter - weltweit. Die Globalgeschichte der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sie nimmt kein Ende: Bangladesch, Ruanda, Srebrenica. Der Massenmord ist dem neuen Jahrtausend eingeschrieben. Der Holocaust ist es, der den Möglichkeitssinn ad absurdum führt. Auschwitz wurde auch möglich, weil der Alptraum einer despotischen Welt Wirklichkeit wurde. Das Einäschern der Träume in Auschwitz hat gewissermaßen System. Die Funktion der Häftlingsnummern, die den Insassen in den Arm eintätowiert wurden, bestand auch darin, die Opfer zu verdinglichen. Die Zahlen stehen seitdem in Verdacht, Mitwisser des Massenmordes zu sein. In Auschwitz war die Arithmetik den Tätern hörig, sie kollaborierte mit diesen bereits während der Wannseekonferenz 1942. Die Zahlen zeugen nicht nur vom millionenfachen Massenmord, sie bezeugen ihre Mittäterschaft. In der Summe geht das einzelne Opfer unter, es verschwindet darin, es wird von den Zahlen vereinnahmt und verschlungen. Das Opfer fällt durch die Nullen hindurch, es stürzt darin wie durch einen weit aufgerissenen Schlund. Allein mit seinem Namen erlangt es seine Individualität zurück, der eine
Geschichte zu Grunde liegt, die erzählt werden will. Die Zahlen selbst zeigen kein Gesicht, sie bekennen sich nicht, sie bekennen nicht einmal Farbe. Das Gemälde mit dem Titel Der Schrei des norwegischen Malers Edvard Munch kommt uns in den Sinn. Wir sehen das vor Angst verzerrte Gesicht der Gestalt im Vordergrund des Gemäldes, wir sehen, wie sie einen lauten Schrei ausstößt, der - und hierin mag die Dramaturgie der dargestellten Situation liegen - unerhört bleibt, womöglich bleibt ihr der Schrei im Hals stecken. Vor allen Dingen aber ist es ihr weit aufgerissener Mund, der die Form einer Null annimmt, die uns interessiert. Ein infernaler Ton lag, wir sagten es bereits, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Luft. Die Atmosphäre war zerrissen. Niemand war im Stande, sie zu schließen. Ein gieriger Schlund hatte sich aufgetan, er war unersättlich, es hätte die Menschheit darin Platz nehmen können...
Das Böse ist, so banal es klingen mag, jederzeit möglich.
Die Apokalypse ist unwahrscheinlich aber möglich. Neigten wir nicht dazu, nachdem wir uns die Dokumentationen über den Massenmord an den europäischen Juden angesehen hatten, dem Schrecken ein Ende zu bereiten, in dem wir uns schworen: Nie wieder! Wir schalteten den Fernseher ab und gingen zum Alltag über. Der Filmriss war eklatant! Doch so leicht konnten wir uns nicht aus der Affäre ziehen. Doch was nützt es, einen faustgroßen Stein in die Hand zu nehmenund den Bildschirm zu zertrümmern, wir können den Alptraum einer despotischen Welt nicht rückgängig machen, er ist geschehen...
Es ist die despotische Welt, die alptraumhafte Züge aufweist.
Eine in der despotischen Welt herbeigesehnte Welt abwesender Ungleichheiten, Unterdrückungen und Ungerechtigkeiten, der eine Ernüchterung, ja, ein Erwachen vorausginge, würde sich als Traum, als Vision, als Utopie erweisen.
Eine Welt unzähliger Uneindeutigkeiten ist das Schreckensszenerio eines jeden Despoten, seine Regentschaft ist Ausdruck einer Furcht vor dem absoluten Kontrollverlust. Ordnungen, Hierarchien, Strukturen, Gesetze, Regeln...all dies sind Begriffe einer Welt, welche die Dinge einer absoluten Kontrolle unterwerfen, die auf ihre Ausbeutung hin anlegt sind. Da hilft auch keine Kunst weiter, diesem letzten ästhetischen Residuum im Keim erstickter Utopien. Der planmäßig betriebenen Okkupation der Kunstwelt wird einer jeden despotischen Regentschaft der Vorrang eingeräumt. Der gleichermaßen systemische wie systematische Einbruch in die Vorstellungswelt der Beherrschten geschieht in aller Regel über die Selbstbeschämung der Individuen, die wiederum zur Selbstverachtung der Betroffenen führt, schließlich zur Selbstverleugnung der Träumenden. Wer meint, jetzt noch phantasieren zu müssen, der steht in Wahrheit mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen. Der Despot muss nicht einmal mehr zur Tat schreiten. Noch in seiner Unkenntlichkeit ist der verfremdete Stuhl als Kunstwerk kein Objekt, das auf etwas Höheres, Ideelles, auf eine Welt jenseits der Wirklichkeit verweist, er bleibt ein hoch gehandelter Gegenstand einer künstlichen Welt. Der Verdrängung des Traumes von einer freien Welt in die Traumwelt des Träumenden wird durch die Furcht des Betroffenen Vorschub geleistet, in Wirklichkeit von der Norm abzuweichen und aufzufallen, was einer Erniedrigung gleichkäme; Ausgrenzungen, gar Anfeindungen wären die Folge. Jegliche Abweichung von der Norm wird in einer despotischen Welt für gewöhnlich geahndet, der Normalfall ist hier der Regelfall. In seinen Träumen nimmt sein Traum von einer Welt der abwesenden Ungleichheiten, Unterdrückungen und Ungerechtigkeiten alptraumhafte Züge an.
Indem der Mensch sich in der Despotie von seinen eigenen Träumen abwendet, wendet er sich dem eigentlichen Alptraum zu, einer despotischen Welt und Wirklichkeit im permanenten Wachzustand...
Der Realität eines faustgroßen Steines hingegen wird Vorschub geleistet, indem eine Möglichkeit unter vielen in seine materielle Beschaffenheit hineingelegt wird, es ist dies die Möglichkeit, eine freiere Welt zu ermöglichen als die bereits vorhandene. Der Stein wird durch die Phantasie aus seiner förmlichen Begrenztheit befreit. Seine Form löst sich nicht auf, der Stein vereinnahmt einen Freiraum im besten Fall, der möglicherweise vorhanden ist. Der Stein ist weitaus mehr als bloße Form, Materie oder Gewicht. Er ist vermittels der Schwerkraft ein Fall an sich. Er wird nur durch den Akt der Befreiung ein Fall an und für sich. Dies wäre der Sinn der Möglichkeit des Steines im Akt des Aufbegehrens. Zwar mag diese Möglichkeit in ihrer Potenz schwach erscheinen, realiter ist sie in der Lage, sich in einen Stein des Anstoßes zu verwandeln – der Zerschlagung sichtbarer sowie unsichtbarer Grenzen, denen bereits selbst sichtbare sowie unsichtbare Gewalten zu Grunde liegen. Der Stein des Anstoßes erscheint den Angepassten allerdings mehr als anstößig, er stößt sie nicht nur ab, er prallt an ihnen ab. Sie fallen nicht eher um, bis sie vor Erschöpfung umfallen. Der Stein des Anstoßes kann folglich nur Bestand haben, wenn etwas, das festgefahren ist, dauerhaft ins Rollen kommt...
Sisyphos Strafe besteht nicht etwa darin, einen Felsblock immer wieder von Neuem den Berg hinaufzuwälzen. Seine Strafe besteht vielmehr darin, dass er seine Verstrickung in seine eigene Unfreiheit verkennt. Nicht grundlos sollen die Götter der Auffassung gewesen sein, dass es „keine grausamere Strafe, als unnütze und aussichtslose Arbeit2“ gäbe. Die Götter irren gewaltig. Die Arbeitslager des 20. Jahrhunderts strafen sie Lügen. Die Götter des mythischen Olymp haben die Todesstiege in KZ Mauthausen nicht im Blick. Das viele Ambrosia hat ihren Blick vernebelt. Während Sisyphos wenigstens die Möglichkeit eingeräumt wurde, seine Arbeitszeit einzuteilen – wir lesen im Mythos weder von Peitschenhieben die auf den Helden eingehen, noch von seiner Unterernährung - waren die Häftlinge an der Todesstiege den SS Schergen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wir sehen ihn vor uns, den Sisyphos des 20, Jahrhunderts, wie er mehrmals täglich einen Granitblock schultert, nur um ihn wenig später, zähneknirschend und mit verbissener Mine, unter immenser Kraftanstrengung einen Steilhang hinaufzuschleppen. Nicht selten wartete der Tod am Ende der Todesstiege auf die Häftlinge. Hatte der Häftling seine Arbeit nämlich getan, so lief er, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, Gefahr, von der SS nachträglich eine Felswand hinabgestoßen zu werden. Der Sadismus der griechischen Götter hält sich vergleichsweise in Grenzen. Ihre Lust an der Pein des Sisyphos beschränkt sich lediglich darauf, der Langweile des Helden, seinem Überdruß mit voyeuristischem Vergnügen beizuwohnen. Wir hören das zynische Gelächter der Götter, wir hören es, wie es donnernd erschallt und den Olymp für einen kurzen Moment erzittern lässt, wir hören es, sobald Sisyphos in Tränen ausbricht. Es ist dieses höhnische, menschenverachtende Gelächter, das uns an das Gelächter der SS Schergen erinnert. Wir sehen eine Analogie zwischen den abgehobenen Göttern des Olymp und den sogenannten Herrenmenschen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Hier wie dort haben wir es mit der absoluten Verfügbarkeit von Menschen durch selbsternannte Übermenschen zu tun, mit göttlichen Wesen einerseits und solchen, die sich in gewisser Weise dafür hielten. Dieser Sachverhalt allein reizt und kitzelt den sadistischen Nerv. Er verführt zu allerlei Schikanen. In der Lust am Leid der anderen zeigt sich die Fratze des Bösen.
Die Hölle besteht auch darin, der Willkür des Bösen schutzlos ausgeliefert zu sein...
Verweigerte Sisyphos den Göttern den Gehorsam, so würde er tatenlos dabei zusehen, wie der Felsblock hinab ins Tal der Unterwelt stürzt. Ein kleiner, stiller Protest, wenn man so will. Sisyphos wäre in der Lage, für einen Augenblick zur Ruhe zu kommen. Er könnte sich den Schweiß von der Stirn wischen. Ein kurzes Blinzeln und der Blick wäre geschärft für das Wesentliche im Leben. Der Held könnte versucht sein, sich in einer Hierarchie zu verorten, in der er auf ewig das Nachsehen hat. Die Topographie der Unterwelt interessiert uns nicht. Die Imagination des Helden im Augenblick seiner Erkenntnis ist es, die unser Interesse weckt.
Die Wirklichkeit des Sisyphos, soviel ist sicher, gleicht einer Hölle. Es gibt aus ihr kein Entkommen. Dem mechanischen Ablauf seiner Handlungen ist die Gewalt einer Autorität eingeschrieben, die in ganz anderen Sphären verkehrt. Und doch wünschen wir uns einen Sisyphos, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Wir wünschen uns einen Helden, der seine Kraft zusammenballt, den Felsen mit seinen gewaltigen herakleischen Armen umfasst und ihn hinauf zum Olymp schleudert. Auch die Unterwelt hat, soviel ist sicher, einen Zugang. Die Möglichkeit, ihn aufzusprengen, ist verführerisch. Für Sisyphos kann die Freiheit nur außerhalb einer despotischen Welt existieren. Eine Freiheit darin kann es für ihn nicht geben. Die Spur der Revolte eines Sisyphos, sie verläuft im Bereich des Möglichen. Sie verläuft im Geiste des Helden. Und tatsächlich: Wir sehen Sisyphos kurz innehalten. Wir sehen, wie sich die Adern an seiner Stirn aufplustern. Ein mächtiger Gedankenstrom breitet sich darin aus. Ist dies möglich? Möglich ist viel, viel mehr, als wir gemeinhin meinen. Wir sehen unserem Athleten der Unterwelt dabei zu, wie er seine Muskeln anspannt. Er hat den Felsen fest im Blick. Er lässt ihn, soviel ist sicher, nicht mehr aus den Augen. Er hat etwas ganz Bestimmtes damit vor.
Er hat etwas im Sinn, eine Möglichkeit, eine Haltung, die den Götter seine Achtung, ja seine Anerkennung abtrotzen wird. Unser Held unterbricht den ewig gleichen Ablauf seiner Handlungen. Sisyphos erkennt: Ein Leben jenseits festgefahrener Routinen ist jederzeit möglich...
Der Stein ist weitaus mehr als bloße Form, Materie oder Gewicht. Er ist vermittels der Schwerkraft ein Fall an sich. Er wird nur durch den Akt der Befreiung ein Fall an und für sich. Dies wäre der Sinn der Möglichkeit des Steines im Akt des Aufbegehrens. Zwar mag diese Möglichkeit in ihrer Potenz schwach erscheinen, realiter ist sie in der Lage, sich in einen Stein des Anstoßes zu verwandeln – der Zerschlagung sichtbarer sowie unsichtbarer Grenzen, denen bereits selbst sichtbare sowie unsichtbare Gewalten zu Grunde liegen.

1 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. 24. Aufl. Hamburg: Rowohlt 2009, S. 16. 1
2 Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos.14. Aufl. Hamburg: Rohwolt 2012. S.144. 8

 

 

Bülent Kacan
Geb. 1975 in Minden/Westfalen. Nachdem er den zweiten Bildungsweg eingeschlagen hat, nimmt er im Jahr 2006 das Studium der Germanistik, Geschichtswissenschaft sowie Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld auf. 2018 Beginn des Lehramtsreferendariats am Gymnasium. Neben dem Studium erfolgen erste literarische Aufzeichnungen, in der Folgezeit Publikationen literarischer Texte in diversen Literaturzeitschriften.