45/ LitArena 5 - 3. Platz - Wer ist Peter Marshall?: Stefanie Schweins

LitArena 5
Siegertext 3.Platz

Stefanie Schweins
WER IST PETER MARSHALL?

Name?
Peter Marshall.
Geburtsdatum?
Vierter Dritter Neunzehnhundertsiebzig.
Größe?
Ein Meter Achtzig.
Gewicht?
Fünfundachtzig Kilo.
Allergien?
Keine.
Signal?
Blau.

Dann wurde im Sekundentakt heruntergezählt.
Dunkle Täler, dunkle Wiesen. Saftiges Gras. Mit Leichtigkeit, beschwingt, hüpfend über das saftige Gras. Dunkle Täler, dunkle Wiesen. Plötzlich Licht. Blaues, grelles Licht.
Eine Frau, beinah ein junges Mädchen noch, kommt so strahlend auf dich zu. Sie kichert. Beugt sich zu dir vor, erreicht dein Ohr. Wer ist Peter Marshall? flüstert sie dir fröhlich kichernd zu.

Als John erwachte, hämmerte es in seinem Kopf. Er hatte schon wieder diesen Traum gehabt. Es war diese Frage, die sich durch seinen Schädel bohrte und nicht aufhörte, den Nerv zu peinigen. Wer ist Peter Marshall? hörte er die Frage immer und immer wieder in seinem Ohr. Wie ein Echo hallte die Frage in ihm.
„Guten Morgen“, sagte noch recht verschlafen eine junge Frau, die neben ihm im Bett lag. Sie lächelte, als sie es sagte.
„Morgen“, antwortete er ihr. Sie war eine flüchtige Bekannte. Eine, an deren Name er sich erst wieder erinnern würde, wenn er ein Zigarette geraucht und eine ordentliche Tasse Kaffee getrunken hatte.
Sie stand auf und verschwand in seinem Badezimmer. Zeit für John, um sich eine Zigarette anzuzünden und über den Traum nachzudenken. Vor einem Monat hatte es begonnen. Wie aus dem Nichts heraus. Vermutlich würde er dem Traum nicht so viel Bedeutung beimessen, wenn er ihn nicht jede Nacht träumen würde. Keine Nacht war seither vergangen, aus der er nicht mit dieser seltsamen Frage erwachte. Aber bisher war der Traum nicht so verwirrend und beengt gewesen wie in dieser Nacht. Er konnte sich nicht erklären, woran es lag. Nichts am Traum hatte sich geändert. Nur das Gefühl, das er mit ihm verband, wurde drastischer.
„Rauchen ist schlecht für deine Gesundheit“, sagte sie wenig später, während sie in der Tür stand.
Aber er reagierte nicht. Stattdessen zog er weiterhin an der Zigarette, bis er sie aufgeraucht hatte.
„Frühstücken wir zusammen?“ So wie sie in der Tür stand, mit dem Finger, der sanft eine Haarsträhne umspielte, wirkte sie wie ein zu groß gewordenes Schulmädchen.
„Ich denke nicht.“ Er wollte kein Frühstück. Vor allem nicht mit ihr. Jedenfalls nicht an diesem Tag. Doch sie gab nicht auf.
„Sehen wir uns heute Abend?“ sagte sie mit einem viel versprechenden Funkeln in ihren Augen.
„Klar.“ Er versuchte überzeugend zu lächeln und hatte keine Ahnung, ob sie ihm seine Antwort abkaufte. Jedoch lächelte sie zurück, zog wortlos ihre Kleidung über und verließ endlich seine Wohnung.

Eine Stunde später ging auch er aus dem Haus. Wenn er jetzt noch zur Arbeit ging, würde er zu spät kommen. Aber hatte er nicht sowieso schon längst beschlossen, heute nicht zu arbeiten?
Also ging er. Die Straße entlang. Ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben. Er wollte einfach nur gehen und seinen Blick über die Stadt schweifen lassen.
Unterwegs kam er an einem Elektronikgeschäft vorbei, das ihm noch nie zuvor aufgefallen war. Peter Marshall-Electronics, prangte der Name des Ladens in blauen Neonröhren vor Johns Gesicht. Erschrocken blieb er stehen und drehte sich zum Schaufenster, wo sein Spiegelbild ihm seine Überraschung und sein Entsetzen zeigte. Mindestens zwölf verschiedene Fernseher standen dort im Schaufenster und boten ihm die verschiedensten Fernsehsendungen dar. Plötzlich aber schwankten alle Bilder um und zeigten ihm nur noch ein einziges: Wer ist Peter Marshall? war nun deutlich auf allen Bildschirmen zu sehen. Aber John blieb kaum Zeit, richtig hinzusehen. Denn so plötzlich, wie die Worte vor ihm aufgetaucht waren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden.
Er beschloss, in den Laden zu gehen. Zu seinem Erstaunen war der Laden leer. Geschockt überprüfte er das Schaufenster. Auch dies war leer. Aber hatten dort nicht gerade noch Fernseher gestanden? Eine Zigarette musste her. Mit zittrigen Händen und einem wild schlagenden Herz holte er unbeholfen eine angebrochene Schachtel aus seiner Hosentasche und steckte sich eine in den Mund. Es dauerte eine Weile, bis er sie mit seinem Feuerzeug angezündet hatte. Beinahe hätte er seine Geduld verloren und sie einfach in die Ecke geworfen. Dann folgte Linderung. Sein Puls beruhigte sich. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren. John trat aus dem Geschäft. Das Schaufenster war in der Tat leer. Es stand auch kein Name mehr über dem Geschäft.
Nicht einmal Neonröhren waren angebracht. Hatte er etwa Halluzinationen? War es schon so weit? Oder träumte er vielleicht nur? So etwas kam schließlich vor. Dann müsste er nur noch warten bis er aufwachen würde. Ja, das müsste es sein. Er träumte. Eine Weile überlegte er, was er nun machen sollte. Was machte man in einem Traum?

Er entschied sich dafür, weiter die Straßen entlang zu gehen. Vielleicht würde er noch mehr solchen seltsamen Geschäfte begegnen. Aber er hoffte nicht unbedingt darauf. Stundenlang setzte er Fuß vor Fuß. Er überlegte nicht, ob er nach rechts oder nach links gehen sollte. Er achtete auch nicht auf die Straßennamen. Er bewegte sich nur vorwärts. Nichts Außergewöhnliches geschah. Die Menschenmassen um ihn herum fügten sich mit ihm in den Straßentrott.
Schließlich stand er vor einem Gebäude. Es war ein großes Gebäude, aber es hatte keine Fenster. Nur eine einzige Tür, die sich öffnete, als John vor ihr stand. Er wusste, dass dieses Gebäude sein Ziel gewesen war, auch wenn er nicht nach einem Ziel gesucht hatte. Also ging er hinein.
Ein langer, steriler Gang erwartete ihn dort und brachte ihn geradewegs zu einem Aufzug, den er ohne nachzudenken betrat. Das Innere des Aufzugs erstrahlte in blauem Licht und der Klang alter Geigen ertönte. Dann setzte sich der Aufzug in Bewegung. ‚Zeit für eine Zigarette’, dachte sich John und zündete sich eine an. Kaum hatte er den ersten Zug seiner Zigarette genommen, erschienen Bilder vor ihm. Ob er sie sich einbildete oder ob sie tatsächlich an den Wänden des Fahrstuhls auftauchten, wusste er nicht.
Er hatte es aufgegeben, nach dem Wieso und Warum dieser seltsamen Ereignisse zu fragen. Es war ein Traum, mehr nicht.
Die Bilder zeigten ihn und seine junge Bekannte, wie sie am frühen Morgen im Bett lagen. Er sah sich wie in einer Erinnerung, nur wesentlich plastischer, erneut die erste Morgenzigarette greifen. Hörte sie wieder nach dem nächsten Treffen fragen. Wie ein Kinofilm präsentierten sich die Bilder vor ihm, während er immer weiter nach oben transportiert wurde. Wie viele Stockwerke er wohl noch nach oben fuhr?
Er konnte es nicht genau sagen. Vermutlich zwanzig oder dreißig. Vielleicht auch viel mehr.
Der Aufzug ließ ihn auf dem Dach des Hauses wieder heraus. Der Blick über die Stadt war atemberaubend. Und auf einmal fühlte er sich frei und unbeschwert. Der Traum, die seltsamen Ereignisse, sie waren vollkommen vergessen. Seine Gedanken waren losgelöst von allem. Als er so dastand, vernahm er plötzlich das Läuten einer Turmuhr. Zwölfmal schlug die Glocke, ehe sie wieder verstummte. Zwölfmal. Dann hörte er den Sekundenzeiger einer Uhr. War es die Turmuhr? Der Zeiger tickte und tickte, als wollte er etwas herunterzählen.

Dunkle Täler, dunkle Wiesen. Schwer, sehr schwer. Verdorrte Rosen, tote Bäume, aber Kinder, die auf der Wiese spielen. Kinder ohne Gesicht. Sie sind fröhlich, kichern. Doch ihr Kichern verstummt. Plötzlich Licht. Blaues, grelles Licht. Ein junges Mädchen wendet sich dir zu, kommt seltsam lachend auf dich zu. In dem Moment, in dem sie vor dir stehen bleibt, reicht sie dir ihre Hand. Wer ist Peter Marshall?, fragt sie dich.

Als er erwachte, hörte er die hart arbeitenden Motoren einer Maschine, die sich in Gang setzten und er spürte, wie sein Körper auf einer Liege nach oben bewegt wurde.
Er versuchte die Augen zu öffnen, doch das grelle Licht der Lampe war unerträglich und blendete ihn. Vergeblich versuchte er seine Hand schützend vor seinen Augen zu halten. Ach ja, er hatte vergessen, dass sie ihm die Hände an die Liege gebunden hatten. Erst nach einer Weile hatte er sich an das Licht gewöhnt und konnte die Männer in den weißen Kitteln vor ihm erkennen, die lächelnd vor ihm standen.

Willkommen zurück, Mr. Marshall.

etcetera 45/ Oktober 2011/ Litarena 5

Stefanie Schweins
Geb.1986, lebt zur Zeit als Studienreferendarin für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen in Hattingen. Veröffentlichungen: Das rote Theater, in: „Unwirkliche Begebenheiten“, Anthologie, net-verlag 2010, sowie: Schöpferlos, in: „Der musische Vampir“, Anthologie, edition Worthexe 2011