53/LitArena 6/1. Platz: Schutt. Mario Wurmitzer
Mario Wurmitzer
Schutt
Frau Professor Wegenrath schlüpfte rasch in ihre Sandaletten und wies die Schüler an, das Gebäude zu verlassen.
Die Kinder versuchten, ihre iPads zu retten. Aus den Schließfächern im Keller trat Rauch aus.
Paul flüchete aus dem Zeichensaal.
Es sind die Geister! Sie kommen, weil wir gelogen haben!
Ein starker Junge warf Paul zu Boden. Schon einmal hatte er Paul befohlen, nicht wunderlich zu sein. Paul hatte sich nicht daran gehalten. Der starke Junge fand, nun sollte Paul verbrennen.
Paul lag auf dem Boden und er erinnerte sich an den Erste-Hilfe-Kurs. Aber er tat es irgendwie falsch. Wenn du in Not bist, brich dir das Schienbein. War das wirklich der Rat des Mannes gewesen, der den Kurs geleitet hatte? Paul brach sich das Schienbein.
Herr Direktor Grubenau sagte, nachdem er die Zahl der Überlebenden notiert hatte: Es schickt sich nicht, wenn eine Lehrerin barfuß unterrichtet. Wo kommen wir denn da hin.
Frau Professor Wegenrath musste ihre Sandaletten und ihren Rock ausziehen. Herr Direktor Gruber wollte ein Schreiben an die Universität, an der Frau Professor Wegenrath ausgebildet worden war und die sie vor eineinhalb Jahren verlassen hatte, aufsetzen und Rock und Sandaletten beilegen.
Es herrschte Unruhe unter den Sportlehrern, sie schossen sich gegenseitig mit Medizinbällen ab und trugen zahlreiche Verletzungen davon.
Paul hustete. Wenn er sich doch nur hätte erinnern können, zum Beispiel an dieses Online-Spiel, in dem es erstaunlich oft um das Löschen von Feuer ging. Warrior-Heaven hieß es. Ihm war immer das Pferd gestohlen oder die Hand abgehackt worden von mächtigeren Spielern. Es war kein schönes Spiel gewesen. Paul brannte mittlerweile.
Paul hätte sehr gerne das Klavier aus den Flammen gerettet. Er hätte dann darin gewohnt oder gelernt, darauf zu spielen. Er wollte sich doch noch verlieben und größer werden und der von ihm geliebten Person Wachsmalkreiden schenken, in die er Kaugummi und Liebe gesteckt hätte. Es wären eigentlich gar keine Wachsmalkreiden mehr gewesen, sondern etwas vollkommen anderes. Die Flammen öffneten Pauls Mund.
Eine Staffelei am Ende des Ganges. Ein Kind stand davor, den Pinsel in Händen. Es malte einen Kreis. Paul schrie um Hilfe. Das Kind hob die Hände, ließ den Pinsel fallen und lief weg.
Hättest du nicht noch kurz, murmelte Paul, mein Leben retten können? Und er brach sich nochmal das selbe Schienbein.
Der Schulchor stand am Fußballplatz und sang: Hurra, hurra, die Schule brennt. Niemand hatte den Schulchor dazu aufgefordert oder hinderte ihn daran.
Herr Direktor Grubenau fragte, weshalb die Schüler so selbstständig und kreativ agieren würden.
Frau Professor Wegenrath antwortete unter Tränen: Aber war es nicht das, was Sie immer wollten?
Ihren Rock und Ihre Sandaletten wollte ich, antwortete Herr Direktor Grubenau.
Paul erblickte den Wandschrank mit den Trophäen und Urkunden darin. Die sechstsauberste Schule im Landkreis. In Anbetracht einer solchen Ehre für die Schulgemeinschaft sollte er sterben?
Der größte Wunsch von Frau Professor Wegenrath war immer gewesen, niemals ein Kind zu verlieren. All die Seminare über ontologische Entwicklung, all die Reflexionen und Forschunsprojekte, wozu? Ihr einziger Wunsch war immer gewesen, nie ein Kind zu verlieren und man hatte ihr nicht gezeigt, wie das ging.
Sabrina und Klaus saßen am Dachboden der Schule. Sie waren nackt und voll Ehrfurcht und Demut. Jeder hielt einen Spiegel vor dem eigenen Körper.
Erkenne dich in mir, sagte Sabrina.
Klaus schüttelte den Kopf.
Immer dieses Esoterik-Zeug, sagte er. Was soll das mit den Spiegeln? Dafür schwänze ich die Flucht vor den Flammen mit dir?
Was hat das denn mit Esoterik zu tun, fragte Sabrina und Klaus nahm ihr das Räucherstäbchen aus dem Haar.
Paul verbrannte.
Was ist mit den toten Kindern?
Sie werden vermisst werden.
Soll uns das trösten?
Eben gerade nicht.
Herr Direktor Grubenau führte das Selbstgespräch beim Urinieren im Gebüsch nahe dem Sportplatz und stellte sich vor, er sei zugleich Herr Schulinspektor Bergmann und er selbst.
Ich habe mich bis jetzt nie gefragt, wie man die Leber eines anderen berührt, sagte Sabrina.
Du bist ja verrückt, sagte Klaus und begann zu husten. Die Flammen breiteten sich schnell aus. Klaus verlor das Bewusstsein. Sabrina zerbrach den Spiegel, den er vor seinem nackten Körper hielt.
Wenn doch Udo Jürgens hier wäre, um uns alle ein wenig zu trösten, sagte Frau Professor Wegenrath, ehe man sie nach Hause schickte. Sie sollte sich ausruhen. Also legte sie sich zu Hause auf den Boden und starrte an die Decke, die bröselte. Polizisten schlugen an ihre Tür. Man habe doch noch ein paar Fragen. Ob die Erhaltung von Leben wirklich so ablief, wie die Erhaltung von Leben abzulaufen hat.
Sabrina trat aus dem Flammenmeer. Sie trug Klaus wie ihr Kind. Er war nackt und drückte sein Gesicht an ihren Hals. Inseinen Haaren schimmerten die Scherben des zerbrochenen Spiegels.
Herr Direktor Grubenau prüfte die Lebendigkeit von Sabrina und Klaus durch Schläge. Ja, es waren Klaus und Sabrina.
Einmal kräftig durchatmen, sagte sich Herr Direktor Grubenau, tat es aber nicht.
Ich hätte nie gedacht, dass das Ende meiner Schulzeit so aussehen wird, sagte ein Junge mit Augenklappe.
Einer seiner Mitschüler fragte ihn, was man nun tun solle.
Eine Bande gründen, sagte er und zupfte an seiner Augenklappe.
Die Kinder rannten los, verteilten sich über die Stadt, verkrochen sich in Ecken und Mülltonnen. Die Feuerwehr löschte die letzten Flammen. Es blieb Schutt zurück. Die Polizei verhörte Frau Professor Wegenrath sehr lange. Herr Direktor Grubenau bekam Kopfschmerzen und legte sich auf den Basketballplatz.
Paul saß auf einem Baumstamm aus Wolle und freute sich, alle bald wiederzusehen. Er würde Wachsmalkreiden verschenken. Es würde Bratwürste geben. Jemand würde Forever young singen. Er würde lachen, bis er weinte und dann würde er wieder lebendig sein. Den Baumstamm aus Wolle würde er mitnehmen. In der Welt der Lebenden könnte er ihn in einer Ausstellung zeigen und so hoffentlich ein berühmter Künstler werden. Er fand, er habe den melancholischernsten Blick für ein Künstlerdasein in New Jersey oder vielleicht sogar in New York.
In den Trümmern der Schule spielten die Eichkätzchen. Die Kinder zogen raubend durch die Stadt und ließen sich manchmal in den Arm nehmen. Ihre Brandwunden versteckten sie unter bunten Tüchern. Herr Direktor Grubenau nahm zur neuen Lage in der Stadt bei einer Pressekonferenz Stellung: Wir haben immer gewusst, dass bald alles vor die Hunde geht. Fragen Sie den Bildungsminister.
Der Bildungsminister wurde gefragt und sagte nichts.
Und außerdem, sagte Herr Direktor Grubenau, ist Schutt ein hervorragender Baustoff. Daraus kann man alles machen.
Alles. Was auch immer Sie sich gewünscht haben, ich garantiere Ihnen, dort, wo die Schule stand, kann es entstehen.
Wir haben jetzt völlig neue Möglichkeiten.
Frau Professor Wegenrath ging in den Zirkus. Als der Löwe in die Manege kam, sprang sie auf und lief zu ihm. Er fraß sie nicht. Er war so zahm. Sie durfte ihn streicheln und dann streichelte der Löwe sie. Er hatte Mitleid mit der jungen Lehrerin, die nun nirgendwo mehr unterrichtete. Er schenkte ihr einen Teil seiner Mähne.
Sabrina und Klaus beerdigten Paul und heirateten wenig später. Sabrina hatte Klaus aus der brennenden Schule gerettet, weshalb er sich zur Ehe mit ihr verpflichtet fühlte. Sie steckten sich Ringe aus einem Kaugummiautomaten an und einer der großen Jungen, ein Bandenführer, erklärte sie zu Mann und Frau.
Der tote Paul konnte den Chor hören. Hurra, die Schule brannte, sangen sie. Es klang müde und trostlos und es gefiel ihm. Er fand im dreckigsten Teil der Kanalisation die Schuhe und den Rock seiner ehemaligen Zeichen- und Englischprofessorin Frau Professor Wegenrath und war erregt wie damals, als er nachts den Fernseher eingeschaltet hatte. Neben den Schuhen und dem Rock lagen allerlei Abfälle der Universität. Prüfungsbögen, Studienbestätigungen, sehr alte Wissenschaftler.
Menschen kamen aus der Fremde und wollten die Schule wieder aufbauen. Sie wurden von den Mentalcoaches der Stadt beschimpft und geschlagen, womöglich gefoltert und schließlich vertrieben, denn Hilfe von anderswo habe man nicht nötig.
Sabrina und Klaus erhoben ihre Biergläser auf das Ende der Schulzeit. Herr Direktor Grubenau hielt eine Rede, die von Kindern geschrieben worden war. Er lobte die neue Lage in der Stadt und betonte, Schutt sei wirklich ein hervorragender Baustoff, daraus könne man alles machen.
Mario Wurmitzer
Geb. 1992 in Mistelbach, studierte Deutsch und Geschichte an der Universität Wien. 2010 erschien sein Jugendbuch „Sechzehn”. Danach wandte er sich dem literarischem Schreiben zu und veröffentlichte Texte in Literaturzeitschriften Anthologien. u. a. 2012/2013 Hans Weigel-Literaturstipendium des Landes Niederösterreich und 2013 Aufenthaltsstipendium im Küstlerhaus Schloss Wiepersdorf.
Erschienen im etcetera Nr 53/ LitArena 6 / Oktober 2013