53/LitArena 6/3. Platz: Die Schafweide. Johannes Milchram

Johannes Milchram
Die Schafweide

Und doch bin ich froh, der kräftigste und beste Bock zu sein. Es verstellen keine anderen wolligen Hinterteile meinen Blick, wenn ich als erster frühmorgens über die Flur schreite, hin zu den klammen Gras- und Kräuterhalmen des Rechtecks, das wir bewirtschaften. Nur ich sehe frühmorgens das Feld ganz leer; die Nebelschwaden, den Hauch des Taus zwischen den Distelblüten. Nur ich kann die reine Nachtluft aus dem erkalteten Boden noch erhaschen, bevor ihn der Stallgeruch verschwitzter Wolle verdirbt.

Ich bin glücklich, wenn ich meinen rechten Huf auf die Weide setze und hier den ersten Atemzug des Tages tun kann. Ich rieche Köstlich-Würziges, Verheißungsvoll-Saures, Schmackhaft-Bitteres. Ich rieche auch die Algen in der Tränke. Sie wachsen auf dem Emaille des weißen Gefäßes, welches nahe des Gatters steht: stets volllaufend mit abgestandenem Wasser, stets überlaufend. Es bewässert das schlammige Terrain rundum, in dessen Erdreich wir knöcheltief einsinken, wenn wir hingehen, um zu saufen. Ich rieche unseren Kot in dem Matsch, ich rieche Verwesendes. Kleintiere und Kriechtiere frequentieren die feuchte Gegend, rote und schwarze Ameisen, Schnecken. Diese sterben hier auch und ihre Häuser zerbrechen unter den Hufen der anderen Schafe und ihre zerquetschten Körper vermischen sich mit dem Schlamm, und ihr Schleim blubbert schaumig, während sie verenden. Es ist dauerhaft feucht und doch ist es ungesund für die langsamen Wesen, hier zu leben. Der Dreck ist voller Würmer und Egel, die auf der Wiese und in unseren Bäuchen hausen. Sie legen immer neue Eier, hinaus in die Pfützen zu den anderen Tieren, wo sie groß und beweglich werden und der Welt hier draußen überdrüssig; sie wachsen und fressen, bis sie heimkehren in die Innenwelt unserer Därme.
Ich weiß, wen wir hier fressen.

Dicrocoelium dentriticum – Eindrücke des Saugwurms auf Halm 1
Ich bin der Auserwählte. Durch den Chitinpanzer der Ameise höre ich gedämpftes Blöken. Im Hinterleib macht sich freudige Unruhe breit. Langsam wird es wärmer; ich drücke fester auf das Nervengewebe und verstärke den Krampf in den Mundwerkzeugen, die sich in den Halm graben. Das Blöken kommt näher.
Ich bin der Auserwählte. Irgendetwas oder Irgendjemand da draußen wusste das wahrscheinlich schon, als ich mit all den anderen die heimatliche Leber verließ und durch Gallenblase und die gewundenen Gänge des Nutztierdarms auf die Wiese gelangte und von der nächstbesten Leberegelschnecke aufgefressen wurde. Irgendetwas oder Irgendjemand wusste, was mir bevorstand, noch lange bevor wir überhaupt daran dachten, die Schnecke vorschriftsgemäß lahmzulegen und sie so elendig krepieren zu lassen, dass sie dabei die größtmögliche Menge zuckerhaltigen Schaums ausatmete. Eine seltsame Stimmung entstand in so einer Schaumblase, irgendwo auf dem Außen des verendenden Schneckenkörpers. Licht und Schatten wechselten einander ab, während die Cercarien geduldig wartend ausharrten; ‚Zeit spielt hier keine Rolle‘, flüsterte jemand, und jeder Begriff von Raum löste sich zielstrebig auf. Die Schaumblase, das erkannte ich damals, war eine Anderwelt zwischen dem, was gewesen war, was immer noch bestand, und gleichzeitig ging, verging, unter der schillernden Hülle unserer Herberge, und dem, was kam, unerbittlich angezogen von der Zuckersüße des schäumenden Schneckenkadavers: auf sechs Beinen näherte es sich, fraß, und schluckte.

Ich bin der Auserwählte, der Hirnwurm, der Held, das einzige Opfer.
Zu diesem Zeitpunkt weiß auch ich es.
Die vorherige Egelgeneration hatte uns davon erzählt, davon, was uns bevorstand, hiervon. Sie hatten gesprochen von der langen Reise durch das vertraute, und doch so fremde Innere des Schafgedärms; von den Monaten ihrer Kindheit als Miracidien in Mitteldarmdrüse und Leber der Schnecken, von ihren gewundenen Körpern, die in eigenartigen Kalktürmen steckten. Doch ihre aufregendsten Geschichten, voll Spannung und Komik spielten im Inneren des Ameisenhinterteils, den sie alle vorübergehend bewohnt hatten. Die Ameise bewegte sich viel schneller als die Schnecke, und sie konnte auf hohe Pflanzen klettern. Der Held der Geschichte war immer ein Einzelindividuum, das am Unterschlundganglion der Ameise saß und sie lenkte. Die Älteren glänzten vor Begeisterung, als sie davon sprachen, doch stets wichen sie der Frage aus, wer von ihnen der Held gewesen war.

Ich erinnere die Erzählungen und stoße ein bitteres Lachen aus. Ich befinde mich inzwischen im Unterschlund. Ich bin der Held. Zu diesem Zeitpunkt weiß es auch die Ameise. Sie biegt ab und läuft querfeldein in das Dickicht der Grashalme, bis es Abend wird, klettert im abnehmenden Licht bis zur Spitze der nächsten Blume und hält daran fest; in ihrem Hinterteil die anderen Cercarien meiner Generation, pubertär, unruhig und ungeduldig in ihrer Freude auf das verheißungsvolle Innenleben eines gesunden Schafbocks; auf heimatliche Winkel eines Gallengangs. Ich schlucke eine bittere Träne.
Das Blöken ist nun über uns. Ich bin der Auserwählte.
Das ist das Ende der Ameise. Mein Ende.

Fasciola hepatica – Eindrücke des Saugwurms auf Halm 2
Wir haben es uns bequem gemacht. Die aufgehende Sonne glänzt rötlich auf den grünen, wogenden Halmen. Wartend schaukeln wir auf und nieder.
Ich richte den Blick nach oben, in den kühl grauenden Morgen. Schäfchenwolken überflocken den Osthimmel, zerfransen in dünne Fasern, so fein, dass sie sich kaum noch von der harten Platte darüber unterschieden. Ich habe in meinem Leben nie die Muße gehabt, mich in ihr Mäandern zu vertiefen. Erst seit ich meine Geißel abgestreift habe und auf einer sattgrünen Halmspitze klebe, bemerke ich den Wandel der Formen auf dem Kreisrund zwischen dem Auf und Nieder des Horizonts der anderen Halme, auf denen ich die übrigen Cercarien meiner Generation weiß, gleich mir, im langsamen Auf und Ab.
Und eine Ameise. Sie scheint wie festgenagelt. Ihr Blick ist fest auf die Pflanzenfaser geheftet, in die sie sich verbeißt. Die ganze Nacht hat sie in dieser Stellung verharrt.
Ich bin ihr gefolgt, nachdem wir die Schnecken verlassen hatten. Ich erinnere mich widerwillig an diese Gegend. In den feuchten Pfützen bewegten sich die Türme belebter Schneckenhäuser zwischen faulenden, verendenden, gerade verlassenen Weichtieren. Wir mussten uns durch den Strom neu ankommender, halbstarker Miracidien drängen, die uns mit ihren Fühlern immer wieder tief in den Dreck tauchten. Wir hatten als gereiftere Cercarien nur mehr eine einzelne Geißel, mit der es ungleich mühsamer war fortzukommen als damals, mit den feinen Härchen der jungen Miracidien. Sie konnten es kaum erwarten, von den Schnecken gefressen zu werden. Die Jungspunde stürmten, als glaubten sie in den Innenräumen der Schnecken verheißungsvolle Leberpasteten zu finden statt schale Organe von Zwischenwirtinnen. Die angewiderte Ausstrahlung unserer Gruppe steckte jeden Einzelnen der kreuchenden Organismen an. Die Aggression der älteren Würmer, die mit ihrem einzelnen Bein durch den Dreck humpelten, war förmlich greifbar. Entnervt sonderte ich mich von den anderen ab.
Ich hatte den Rand der Pfütze erreicht und die letzte der Schneckenleichen passiert. Sie war von einem eigenartigen Schaum überzogen, wie ich ihn auf dem Tier, aus dessen Inneren ich gekommen war, nicht bemerkt hatte. Ich erinnerte mich nur, die dünne Haut durchstoßen und mich gleich in der fauligen Luft über der spiegelnden Pfütze wiedergefunden zu haben. Da bemerkte ich die schwarzen Stangen der Ameisenfühler, die durch den Schaum pflügten. Mein Grund, ihr zu folgen, war der Ausdruck schieren Wahnsinns in ihren Facettenaugen. Mit übertrieben hastigen Bewegungen hatte sie das tote Tier verlassen und war in das Dickicht der Wiese gestürzt. Ich folgte den Fußabdrücken, sie dufteten intensiv nach einem Gemisch aus Schlamm und Schneckenhaut. Erst als die Luft in der Wiese mit dem abnehmenden Licht erkaltete, hatte ich sie eingeholt. Ihre süßlich stinkenden Fußabdrücke führten den Stängel eines Spitzwegerichs hinauf, und da ich ohnehin vorhatte, meine Reise zu beenden, erklomm ich den benachbarten einladend breiten Grashalm.
Ich konnte meine Geißel abstoßen und ruhen.
Aus der Ferne dringt lautes Blöken herüber. Ich verabschiede mich von der farbigen Platte über mir und freue mich auf das verheißungsvolle Innenleben eines gesunden Schafbocks. Auf das üppige Mahl eines Leberlappens. Die heimeligen Krümmungen des Gallengangs. Das Leben ist schön.

Ich bin der erste, der sein lautes Määh! über die stille Weide blökt und dann zu mähen beginnt. Ich weide die frischesten Huflattichtriebe ab und die jüngsten Sauerampfer und ich schlucke als erster die neuen Cercarien. Manchmal frage ich mich, ob die dummen Schafe der Herde über die Mitessenden in unseren Eingeweiden wissen. Sicher haben sie die Kleinstlebewesen nie bemerkt, die an ihren Hufen kleben, sobald sie die Tränke verlassen. Sie rupfen am Gras rund um die Pfützen und rülpsen.
Manchmal streift mein Blick über die wolligen Gestalten meiner Herde, doch ich bin nicht angewidert. Verschwitzte Haarbüschel verfangen sich in den Drahtschlaufen des Zauns, der die Weide einfriedet. Der Morgentau wäscht sie aus und die Mittagssonne bleicht sie, doch ihren Geruch verlieren sie nicht. Sobald ich das Feld betrete, schnuppere ich nach dem Hauch alter Schafwolle.
Denn ich weiß es: Wir sind die Weide; die Schafe, das Labkraut, die Schnecken, die Leberegel und Tau und Nebel.

Johannes Milchram
Geb. 1989 in Neunkirchen, lebt und arbeitet in Wien. Studiert vergleichende Literaturwissenschaft an der Uni. Wien und ist seit 2010
Teilnehmer am “offenen Schreibkreis Acht Uhr” im Literaturhaus Wien.

Erschienen im etcetera Nr 53/ LitArena 6 / Oktober 2013