55/verloren/Deborah Sengl: Die letzten Tage der Menschheit
Gertraud Artner
Die letzten Tage der Menschheit
eine Installation von Deborah Sengl im Essl Museum bis 25. Mai 2014.
Zum künstlerischen Auftakt des Gedenkjahres an den Ausbruch des ersten Weltkrieges vor 100 Jahren bevölkern weiße Laborratten den großen Saal des Essl Museums. Es war Karl Kraus, der einmal meinte, Österreich sei eine „Versuchsstation des Weltuntergangs“. Die Bühnenfassung seines epochalen Werkes „Die letzten Tage der Menschheit“ nahm die bildende Künstlerin Deborah Sengl als Vorlage für ihre neueste Installation, ihre erste große Museumspräsentation. Ihre Arbeit ist als freie künstlerische Interpretation zu verstehen, in der sie bei der Auswahl der Szenen (41 Szenen und 3 apokalyptische Monumentalszenen) versuchte, einen Querschnitt der verschiedenen Handlungsspielräume wiederzugeben: von Straßen- und Magistratsszenen über Geschehnisse im Lazarett bis zu den Gräueltaten an den Kriegsschauplätzen. In enger Zusammenarbeit mit einem Tierpräparator hat die Künstlerin ihre Protagonisten, die Ratten, in Szene gesetzt und auch mit den erforderlichen Requisiten ausgestattet: passende Uniformkappen und Gewehre, Prothesen für die Verwundeten, Perlenkette und Korsett für die „Damen“, das neueste Extrablatt für den Zeitungsausrufer am Sirk- Eck, eine Zwangsjacke für den Kriegsgegner...Unter all den weißen Ratten (174 an der Zahl) zeigt sich einzig das Alter Ego von Karl Kraus („Der Nörgler“) in schwarzem Pelz, auf einem Sesselchen sitzend, das einem Prototyp des Architekten Adolf Loos, mit dem er gut befreundet war, nachempfunden ist. Diese auf Rattengröße verniedlichte Sicht der Dinge fasziniert, birgt allerdings auch eine große Gefahr in sich, die der Ablenkung vom eigentlichen Geschehen, von der Tragik und dem unermesslichen Leid dieser Zeit. Es dauert eine Weile, bis das spontane „Jö, schau!“ des Besuchers in den Hintergrund der Betrachtung rückt. Zu herzig sind die kleinen Nager, wie sie die Schulbank drücken, zu putzig die „Drei deutsche Modedamen“ und zu drollig, wie sie die kleinen Sektgläser heben und das Tanzbein schwingen. Nur allmählich, oft erst bei den apokalyptischen Monumentalszenen, schleicht sich bei den BetrachterInnen Unbehagen und das den tatsächlichen Ereignissen entsprechende Grauen ein. Andererseits ist dies natürlich auch eine bewährte Vorgangsweise, das Interesse und die Bereitschaft zu wecken, sich auf eine Auseinandersetzung mit den schrecklichen Geschehnissen einzulassen, statt sich angesichts geballter Brutalität sofort zu verschließen. Deborah Sengl hat bei Christian Ludwig Attersee studiert. Schon in ihren bisherigen Malereien, Zeichnungen und Skulpturen hat sie immer wieder allgemein menschliche Fragestellungen auf das Tierreich übertragen und so das Rollenverhalten in der Gesellschaft untersucht. „Ich bediene mich deshalb des Tiers als Metapher, weil ich finde, dass man ablenkt, wenn man Menschen darstellt. Man lenkt mit der Physiognomie ab, jeder beginnt, seine subjektive Sicht auf diesen Menschen zu haben.“ Zur Wahl der Ratten meint sie weiter: „Die Entscheidung für die Ratten fiel relativ schnell, weil ich meine, dass sie den Menschen ähnlich sind. Sie sind von den Tieren sicher die egoistischsten Wesen, die zuerst an sich selber denken.“ Darüber hinaus wollte die Künstlerin keine Hierarchien und Wertungen schaffen. Alle sind - so wie es auch Karl Kraus beschreibt - an dem Krieg gleich mitschuldig: die Soldaten, die morden, aber auch die propagandistische Presse oder die Zivilisten, die sich nicht dagegen wehren, Meinungen kolportieren und wiedergeben. Sogar Karl Kraus gibt sich selber in der Schlussszene eine Mitschuld. Bei der Pressekonferenz vertrat die Künstlerin die Überzeugung, Kraus`Diagnose ließe sich „eins zu eins auf heute ummünzen“. Auch wenn sie damit vor allem auf die Rolle der Medien anspielte, ist diese Aktualisierung kaum nachvollziehbar. Die These, alle wären gleich schuld, verstellt den Blick auf die eigentlichen Ursachen des Krieges und den weiteren geschichtlichen Verlauf des 20. Jahrhunderts, der wenige Jahre später zur nächsten, noch größeren Katastrophe für die Menschheit führen sollte. Bedauerlich ist, dass der Text von Kraus – mit all seiner Schärfe und Bissigkeit – nicht in die Installation integriert wurde. Sengl hat bewusst darauf verzichtet, da sie eine bloße Illustration des Werkes vermeiden wollte. Hinter den Objekten sind jeweils Zeichnungen angebracht, die in erster Linie dem Tierpräparator als Vorlage dienten, für den Betrachter aber zumindest als eine Art Legende zum Objekt fungieren. Nachzulesen ist die Angabe des Aktes, der Szene, des Spielortes und der Darstellenden. Wer sich in das Werk selbst vertiefen will, hat dazu an einem Kaffeehaustisch im Ausstellungssaal die Möglichkeit. Mit der Präsentation von Deborah Sengls Installation, die noch bis 25. Mai zu sehen ist, startete das Essl Museum sein Ausstellungprogramm für das Jahr 2014, das unter dem Motto >made in austria< steht. Bundespräsident Heinz Fischer übernahm höchstpersönlich die Eröffnung. Zur Ausstellung gibt es auch einen Katalog (€25) mit zahlreichen Abbildungen der einzelnen Szenen und Szenenausschnitten, Zeichnungen und Malereien. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass kein Tier für die künstlerische Arbeit sterben musste. Es handelt sich um Futterratten für die Greifvogel- und Reptilienzucht. Deborah Sengl Geb. 1974 studierte vorerst Biologie, dann Studium an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien. 1977 Diplom der Meisterklasse Christian Ludwig Attersee (Abteilung für bildende Kunst) Gertraud Artner Geb. 1948 in St. Pölten, Dr. phil., Malerei an der Akademie der Bildenden Künste und Soziologie an der Universität Wien, in der Kunstvermittlung tätig. Redakteurin und Vorstandmitglied der LitGes.
Erschienen im etcetera Nr. 55 / verloren / März 2014