55/verloren/Eva Riebler-Übleis: 100 Jahre verloren

Eva Riebler-Übleis

100 Jahre verloren

Nach 100 Jahren finde ich Feldpostkarten von meinem unbekannten Onkel an meinen unbekannten Großvater. Das Erinnerungsjahr bekommt eine persönliche Färbung. Wenn in der ersten Ausstellung heuer anlässlich dieses Beginnes des 1. WK im DOK-Zentrum des Stadtmuseums St. Pöltens die Erinnerungs-Ausstellung, Kurator Christian Gmeiner läuft, so ist man betroffen, aber sieht doch die Distanz und hat verinnerlicht: „Nie mehr wieder!“ Wenn man den Quadratmeter Erde aus Uganda, versetzt ins Stadtmuseum, betrachtet, als Zeichen, dass es dort genauso Krieg und Ungerechtigkeit gibt, so ist man wieder im Hier und Jetzt angelangt. Wir sind keine Hurra-Patrioten, wie es sie vor 100 Jahren gab. Ganze Universitäten mussten geschlossen werden, da Personal und Studenten meist freiwillig in den Krieg gezogen waren. Und die gegen diese Art von Patriotismus ätzten, sind als Halb-Verrückte deklassiert worden. - siehe Szene in der Irrenanstalt aus Letzte Tage der Menschheit v. Karl Kraus, nachgestellt von Deborah Sengl, Essl Museum Klosterneuburg, siehe etcetera S. .. Die Schriftsteller hatten nun an der Front die Feldpost- Karte statt des Pamphletes zu schreiben. Viele, die wie Ernst Jünger oder Heimito von Doderer Kriegsfreiwillige waren, konnten im 2. WK wiederum einrücken. (Ernst Jünger sah den Krieg als Rausch, den Tod als großes Erlebnis, während Georg Kaiser immerhin dem Opfertod Sinn verlieh, 1914 Eustache in: Die Bürger von Calais) Oder sie immigrierten vor dem 2. WK wie Hermann Broch, Thomas Mann, Carl Zuckmayer, Ödön von Horvath, Stefan Zweig, Arnold Zweig, Anna Seghers, Robert Musil usw. oder sie wurden ins KZ gebracht, wie Ernst Wiechert …. oder fielen wie August Stramm oder Franz Marc. Viele Künstler verweigerten sich nicht nur dem Propaganda, sondern schwiegen überhaupt oder knüpften an den magischen Idealismus der Romantik an, wie Hugo v. Hofmannsthal, um aus der Verstrickung der Bindung an die Welt zur Erlösung durch Selbstüberwindung zu gelangen (Die Frau ohne Schatten 1919). Die Weltdeutung und somit die Literatur und die Literaturströmung wurden vor allem nach dem Krieg eine andere. Auch der bildende Künstler musste nicht mehr wie Oskar Kokoschka trotz Kopfschuss, Bruststich und räumlich wie akustischer Orientierungslosigkeit an der Front kaputte Fabriken zeichnen. Statt dem Skizzenbuch gibt es wieder die großflächige Malerei samt Staffel. Jedoch ist vieles und sind viele unwiederbringlich verloren. Bereits bei Kriegseintritt am 1.9.14 bestand plötzlich der „Blaue Reiter“ zur Hälfte aus „staatsfeindlichen Elementen“. Aus Widerstand jedoch entstand Neues. Bereits 1916 formierten sich Hugo Ball, Hans Arp, Emmy Hennings u. a. zum Cabaret Voltaire, zu einer avantgardistischen Keimzelle der Dada-Bewegung, in der internationale Künstler und Schriftsteller mit parodistischen Mitteln die Revolte gegen die bürgerliche Gesellschaft und blinde Kriegsbegeisterung probten. Und so ist auch unser Etcetera-Themen-Heft VERLOREN einzureihen – zwischen Karl Kraus Die letzen Tage der Menschheit und der Ausstellung ERINNERN im DOKU St. Pölten und der Ausstellung Deborah Sengls im ESSL Museum

Erschienen im etcetera Nr. 55 / verloren / März 2014