57/konkrete Poesie/Vereinsleben: Schloss Drosendorf

Gertraud Artner

Die alte Chinesin vom Alsergrund

In den Kriegswirren im Winter 1917 blieb es nahezu unbemerkt, als eine alte Frau in Wien-Alsergrund sich das Leben nahm. Mehr als drei Jahre nach Ausbruch des Großen Krieges war die Stadt nach anfänglicher Euphorie von Elend und Hungersnot schwer gezeichnet. Alles drehte sich nur noch um´s nackte Überleben.

So wurde die Leiche der Alten erst nach Tagen eher zufällig entdeckt. Offensichtlich hatte sie keine Angehörigen mehr, in der Gasse war sie nur als „die Chinesin“ bekannt. Abschiedsbrief wurde keiner gefunden, nur ein altes Tagebuch, das aber keinen interessierte. Sie selbst hatte wohl auch die Freude am Schreiben verloren, denn ihre Eintragungen wurden immer seltener. Die letzte stammte vom Sommer 1916. Da schrieb sie:
Immer nur lächeln! Das ist meine Devise. So wurde ich erzogen. Nur nicht die Kontenance verlieren! Kleinere oder auch größere Ärgernisse  -nichts kann mich erschüttern. Das ist gerade so, als würde in Peking ein Fahrrad umfallen. Also bitte, wen kümmert´s! Sogar in dieser schrecklichen Zeit bemühe ich mich, meiner Devise treu zu bleiben. Wie lange ich das noch schaffe? Ich weiß es nicht. Das Elend ist kaum noch zu ertragen. So viele, die mir nahestanden, sind schon umgekommen oder werden vermisst. Bald werde ich ganz allein sein. Und dieser ständige Hunger! In den Nächten liege ich wach und weine. Die Tränen fließen einfach so, ich kann nichts dagegen tun. Aber wenn ich hinaus auf die Straße gehe, heißt es für mich noch immer: Lächeln, nur lächeln. Niemals würde ich mir meine Verzweiflung anmerken lassen. Dabei werden die Leute immer gehässiger. „Der ist das Lächeln noch immer nicht vergangen, der alten Chinesin“ reden sie hinter meinem Rücken.

Chinesin? Von mir aus! Damit kann ich leben. Immerhin gehört China zu den wenigen Ländern, die sich nicht an diesem mörderischen Wahnsinn beteiligen. Ein winziger Hoffnungsschimmer, dass der Große Krieg doch nicht die ganze Welt erfasst und in Dunkelheit gestürzt hat. Da bin ich gerne Chinesin!

Damit endet die letzte Tagebucheintragung im Sommer 1916. Tatsächlich war China ja bereits 1914 militärischen Aggressionen von Japan ausgesetzt, wollte sich jedoch aufgrund politischer Unruhen im eigenen Land nicht auf einen Krieg einlassen. Erst nach weiteren Eskalationen 1917 ersuchte China die Alliierten um Beistand. Diese knüpften an ihre Hilfe eine Bedingung, nämlich dass China zuvor den Feinden der Alliierten den Krieg erklären musste. Und so geschah es.

Die alte Frau in Wien-Alsergrund hat sich im Winter 1917 erhängt. Das war in ihrem Haus, ihrer Gasse, ihrem Viertel gerade so, als ob in Peking ein Fahrrad umgefallen wäre.

Gertraud Artner
Dr. phil., geb. 1948 in St. Pölten, Malerei an der Akademie der Bildenden Künste und Soziologie an der Universität in Wien, Weiterbildung zur Maltherapeutin, lebt in Wien und St. Pölten, in der Kunstvermittlung tätig