73/Höhle/Textprobe: Marie und der Bär

Marie und der Bär
(ein modernes Märchen)

Es war einmal eine Fleischfachverkäuferin. Sie hieß Marie und hatte große Freude an ihrer Arbeit. Jeden Morgen holte sie das Fleisch und die Wurstwaren aus dem Kühlraum und räumte alles, was die Metzgerei feilbot, in die Ladentheke. Einen besonderen Platz bekam die Spezialität des Hauses: Der Kräuterfleischkäse. Dieser war der ganze Stolz der Metzgerei, im ganzen Land gab es keinen besseren, das Rezept dafür war streng geheim. Jeden Morgen ganz zum Schluss, wenn alles andere vorbereitet war, legte Marie den Fleischkäse auf einen schönen Teller und stellte diesen auf ein Podest ganz vorne in der Theke, dann schloss sie den Laden auf.Eines Morgens aber trat der Fleischermeister hinzu, genau in dem Moment, als sie den Fleischkäse auf den Teller legen wollte, blickte mit finsterer Miene in die Auslage und sagte mürrisch: „Das ist der letzte. Der Majoran ist alle und ohne Majoran kein Fleischkäse. Geh und besorge mir welchen, aber keinen gewöhnlichen. Nur der Majoran von der Wildkräuterwiese auf der Lichtung im Bannwald taugt für unser Produkt. Also zieh ab, ohne das Kraut brauchst du gar nicht erst wiederkommen.“

Marie machte sich sofort auf den Weg. Mit der Straßenbahn fuhr sie bis zum Stadtrand, ab da ging es zu Fuß über Felder, durch Wiesen, an Obstplantagen vorbei, bis sie schließlich den Wald erreichte, wo sich der Weg bald vielfältig verzweigte. Tief und tiefer ging es in den Wald hinein, doch solange sie auch lief, die Wildkräuterwiese, von welcher der Fleischermeister gesprochen hatte, wollte sich nicht finden lassen. Statt dessen entdeckte Marie mitten im Wald einen See. Hier machte sie Rast und ließ sich auf dem hölzernen Steg nieder.

Still war es an diesem Ort. Das Vogelgezwitscher, das Gesumme von Fluginsekten, der dünne Pfiff eines über dem See kreisenden Greifvogels, all das unterstrich die Stille, die von diesem stumm da liegenden Gewässer ausging. Marie blickte in den See und versuchte auszumachen, wo der Grund sei, doch sie konnte nichts erkennen, so dunkel, fast schwarz, war das Wasser. Und auf dem Wasser lag reglos ihr Spiegelbild. Wie sie aussah! Sie hatte ja noch die Schürze von der Metzgerei an! Und diese roten Flecken im Gesicht mit diesem käsigen Teint! Das kam von der kühlen Luft und dem schummrigen Licht im Verkaufsraum, wo sie sich neun Stunden am Tag, sechs Tage die Woche aufhielt. Sie konnte es sich nun mal nicht aussuchen, war allein erziehend und auf dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbar. Der Umgang mit den Kunden machte ihr ja Spaß, aber dieser Chef... Es gab Tage, da wäre sie am liebsten auf Nimmerwiedersehen verschwunden, hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst, hätte sich am liebsten versenkt auf dem Grund eines...

Splash! Mit Getöse tauchte unvermittelt ein gigantischer Bär  aus der Tiefe auf, stieg aus dem Wasser und setzte sich zu Marie auf den Steg. Wasser tropfte aus seinem Fell und sammelte sich in einer Pfütze, die immer größer wurde und bald Maries Schürze erreichte. „Igitt, nass“, entrüstete sie sich. „Na und, du wolltest dich doch eh gerade in die Fluten stürzen, was sind da schon ein paar Tropfen. Nichtsdestotrotz, kannst du mich abtrocknen?“

'Ganz schön dreist, dieser Bär', dachte Marie, nachdem sie den ersten Schrecken verdaut hatte. 'Aber er riecht gut. Und wenn ich ihm damit eine Freude machen kann, trockne ich ihn eben ab'. Sie stand auf, zog ihre Schürze aus und rubbelte ihn von oben bis unten kräftig durch. 'Was für ein weiches Fell er hat. Und überhaupt, er ist ein ausgesprochen schöner Bär', stellte Marie fest. Zufrieden bedankte sich der Bär bei Marie und fragte dann: „Wolltest du nicht was besorgen? Wenn du willst – ich kann dir zeigen, wo es das gibt, was du suchst.“ Und sie machten sich gemeinsam auf den Weg.

Es dauerte nicht lange, da kamen sie an eine Hütte. Die Tür und alle Fenster standen offen, delikat duftender Dampf quoll nach draußen. Drinnen standen je drei Bären um riesige Töpfe herum, sieben an der Zahl, und rührten singend und plaudernd mit gigantischen Kochlöffeln in einer grünen Flüssigkeit. „Das ist unsere Seifensiederei. Hier produzieren wir unsere Waldkräuterseife“, erklärte der Bär. „Damit die Seifen eine schöne Form bekommen, füllen wir den Seifensud in blecherne Förmchen. Gar nicht so einfach, die filigranen Förmchen mit Bärentatzen auf der Arbeitsplatte aufzustellen. Könntest du uns da behilflich sein?“ 'Wieso nicht', dachte Marie und reihte alle Förmchen, die da waren, auf die Arbeitsfläche. Das dauerte eine ganze Weile, aber Marie machte es Freude, denn sie mochte sehr den Geruch des Seifensudes.

Sie gingen weiter. Bald erreichten sie eine Felswand mit einer riesigen Höhle. Davor waren drei lange Tische aufgestellt. An jedem Tisch standen je sieben Bären. Auf dem ersten Tisch lag in der Mitte ein großer Haufen mit den verschiedensten Kräutern, die von den Bären sortiert wurden. Am zweiten Tisch wurden die Kräuter kleingeschnitten und in gläserne Karaffen gegeben. Die Bären am dritten Tisch füllten siedendes Wasser in die Gefäße. „Das ist unsere Wildkräuter-Salbenmanufaktur“, erklärte der Bär. „Die Karaffen mit dem Kräuterauszug müssen abgeseiht werden. Das ist gar nicht so einfach mit Bärentatzen. Könntest du uns helfen?“ 'Oh ja gern', dachte Marie, denn auch hier roch es wieder ausgesprochen gut und sie machte sich sofort daran, den Kräutersud in tönerne Gefäße abzuseihen.

Nach getanem Werk setzten Marie und der Bär ihren Weg fort. Es ging über einen Bach, dann durch ein Waldstück mit uralten Eichen, schließlich durch ein Dickicht und plötzlich lichtete sich der Wald und vor ihnen lag eine weitläufige Wiese. Bunte Blumen verschiedenster Art wuchsen hier. Schmetterlinge tummelten sich im Blütenmeer. Ein betörender Duft stieg Marie in die Nase. „So, da wären wir. Schau, hier wächst der Majoran, den du suchst. Ich habe schon was für dich vorbereitet“, sagte der Bär, griff hinter eine prächtige Königskerze, hob einen Stoffbeutel auf und überreichte ihn Marie. Die war sehr froh über das Geschenk und darüber, sich nun endlich auf den Heimweg machen zu können. Sie bedankte sich herzlich, dann begleitete sie der Bär bis zum Waldrand, wo er sich mit einer dicken Bärenumarmung von ihr verabschiedete.

Den Fußmarsch bis zur Stadt brachte Marie schnell hinter sich. Für das letzte Stück Weg bis zur Metzgerei nahm sie wieder die Straßenbahn. Erschöpft setzte sie sich. Dann fiel ihr Blick auf den Beutel mit den Kräutern auf ihrem Schoß. Er kam ihr plötzlich sehr klein vor. Ob der Majoran für all den Fleischkäse, der produziert werden musste, ausreichte? Sie schaute hinein und entdeckte zwölf Kräuterzweige, alle verschieden. Oh je, nur zwölf Zweige und was davon war Majoran? Verzweifelt nahm sie einen der Zweige aus dem Beutel – vielleicht könnte sie das Kraut, das der Fleischermeister brauchte, am Geruch erkennen. Marie schnupperte – der Zweig roch intensiv nach Pfefferminze. Sie wollte ihn wieder zurücklegen, aber was war das? Der Beutel war plötzlich voll mit lauter Pfefferminze. Sie pickte einen der anderen zwölf Zweige zwischen der Pfefferminze aus dem Beutel – sie roch daran - Kamille. Als sie diesen Zweig zurücklegen wollte war der Beutel plötzlich voll mit Kamille. Und was sie auch heraus nahm, immer wenn sie den Beutel erneut öffnete, fand sie darin ein Vielfaches von dem gerade heraus genommenen Kraut. Und ganz unten im Beutel entdeckte Marie ein Büchlein. Sie schlug es auf und las: „Kräuterfibel aus dem Bärenwald. Kräuter erkennen, Kräuter richtig verarbeiten, Kräuterprodukte vermarkten. Mit zwölf Spezial-Rezepten für kosmetische Anwendungen.“ Ganz hinten im Buch fand sie noch einen Zettel. „Liebe Marie, du hast das Zeug für eine eins A  Naturkosmetikherstellerin. Mach was draus. Dein Bär.“ Marie blickte auf. Die Bahn hielt gerade an der Haltestelle vor der Metzgerei. Drinnen stand mit käsigem Teint und roten Flecken im Gesicht ihr Chef. Die Türen der Bahn gingen auf, die Türen gingen wieder zu, Marie blieb sitzen und die Bahn fuhr weiter.

Monate später eröffnete im Zentrum ein neues Geschäft: „Maries Wildkräuterwaren – feine Naturkosmetik“. Der Fleischermeister aber machte sich selbst auf den Weg in den Wald, um Majoran zu sammeln und wurde nie wieder gesehen.

Kurzbiografie
Petra Jäger ist frei schaffende Autorin und Illustratorin und lebt mit Mann und Katze in einem Dorf im Südschwarzwald. Weitere Informationen unter www.petrajaegerillustration.de

Kontakt: Petra Jäger, Zum Holzfeld 5, DE - 79809 Weilheim
pet.jaeger@web.de, +49 (0) 7755 91144

www.petrajaegerillustration.de