84/Waldgang: Zum Geleit

„Der Ort des Wortes ist der Wald.“ (Ernst Jünger: Der Waldgang)

Es begann, wie so oft, im Wirtshaus.
Der Musiker, Autor, Photograph und Heftkünstler dieser ETCETERA-Ausgabe, Gerhard Hallstatt, und ich saßen an einem lauen Sommerabend des Jahres 2020 im Gastgarten der Wiener Speis-und-Trank-Institution „Zur Stadt Krems“.
Das Essen war, wie immer, köstlich (und nicht grad wenig) und wir waren soeben beim ersten Folgebier angelangt. Unsere Gespräche kreisten – wie meistens – um unsere Lieblingsthemen: Wandern, Cocteau, Christomanos (naaa?), Lovecraft, Werner Herzog, Bücher im Allgemeinen, Musik, die österreichische Innenpolitik („the Horror, the Horror!“), Sehnsuchtsorte wie Venedig, Madeira oder Baden bei Wien, unser beider Lebensgefährtinnen (nur das Beste!) … und eben Ernst Jünger. Dessen „Waldgänger“ hatte es uns angetan. Zeitgleich war auch das Buch „Der Waldgang des Abenteuerlichen Herzens“ von Albert C. Eibl erschienen, in dem es um Jüngers „Ästhetik des Widerstands“ in dunklen Zeiten und dessen Konzept der „inneren Emigration“ ging, die unter anderem auch eine „Nichtbeteiligung am Niedrigen“ als tragende Säule der Lebenshaltung beinhaltet. Der Figur des Waldgängers entspricht „der Anarch, der sich von
der Gesellschaft gedanklich unabhängig macht und einem übermächtigen Staat Widerstand leistet“. Es ist ein Mensch, der sich gleichsam in Selbstermächtigung den Anmutungen eines mitunter tyrannisch agierenden Mainstreams entzieht, um im Wald (der hier – auch – synonymisch gemeint ist) frei und fern von alltäglichen Manipulationsversuchen Gedanken formt und zur Umsetzung vorbereitet: der Wald als Metapher für einen unkorrumpierten Ort der Selbstfindung, wenn man so will. Auch die Büchermenschen aus dem Roman „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury (und der großartigen Verfilmung durch Truffaut mit Oskar Werner in der Hauptrolle) fallen letztendlich darunter: Personen, die in den Wäldern die von einem Unrechtsregime verbotenen Bücher auswendig lernen, um sie für nachfolgende Generationen zu retten. Sie tun dies in einer Welt, in der die Feuerwehr „das Buch im Haus nebenan“ verbrennt. da dieses  eine Waffe in der Hand der Lesenden im Kampf gegen eine totalitäre Gesinnung darstellt, die mit ihren Werkzeugen – mentale Gleichschaltung und Verdummung – jegliches Andersdenken und -sein mit Stumpf und Stiel auszurotten trachtet.
Unser Gespräch im Wiener „Krems“ führte uns dann noch zu verschiedensten Wandererinnerungen allgemeiner Natur – und spätestens, als ich einige von Gerhards Fotos sah, die er auf seinen Wanderungen geschossen hatte, formte sich der Gedanke, zu dem Themenbereich „etwas zu machen“.
Und selbstverständlich noch ein weiteres Bier zu bestellen. Gesagt, getan. Für die ETCETERA-Ausschreibung stellten wir den Wald in den Mittelpunkt; eine Beschäftigung mit Ernst Jünger in den Einsendungen wurde zu einer Kann-, aber keiner Muss-Bestimmung. Und zusätzlich war es natürlich klar, dass sich das Bild des Waldes seit Jünger stark geändert hatte. Nicht erst zu Corona-Zeiten, in denen massiv erschwerte Ausreisebestimmungen die Menschen im Lande hielten, wurde der Wald inzwischen leider auch zum Dorado rücksichtsloser Freizeit-Hooligans, die nicht einmal ihren Müll wieder mitzunehmen willens und fähig sind. Man darf also die berechtigte Frage stellen, ob ein „Waldgang“, der übers rein Metaphorische hinausgeht, heutzutage überhaupt noch möglich ist.
Nun, Wem-auch-immer-sei-Dank finden sich noch Plätze, an denen man sich als gedankenvoll Gehender und Wandernder halbwegs ungestört bewegen kann und auch die von Jünger geforderte „Nichtbeteiligung am Niedrigen“ plötzlich wieder greifbar scheint.
Mehr als 250 (!) Einsendungen waren die Folge der obgenannten Ausschreibung, was wohl nicht nur fürs ETCETERA als Rekord gelten mag. Grad einmal ein Zehntel davon konnte aus Platzgründen in diese Ausgabe einfließen. Die Bandbreite ist groß: vom Wald als Rückzugsort für freies Denken, als (geliebtes wie ungeliebtes) Wandergebiet, in dem auch die Anbahnung amouröser Handlungen ihren Platz findet, als Märchenwald, der durchaus im Unheimlichen angesiedelt sein darf, bis hin zu Aufzeichnungen über Robert Walser oder Julien Gracq, der sich der Vermarktung harsch verweigerte und stattdessen lieber ein Leben als Waldgänger im Jüngerschen Sinne führte, als einem korrupten Literaturbetrieb zu Diensten zu sein. Und, ja, auch der Humor kommt nicht ganz zu kurz.
Die traumhaft schönen Fotos von Gerhard Hallstatt runden einen, wie ich meine, vielseitigen Gang durch den Wald ab. „In den Wäldern sind Dinge, über die nachzudenken man jahrelang im Moos liegen könnte.“ (Franz Kafka)
Es wird Zeit, dorthin aufzubrechen!
Ihr Thomas Fröhlich

Thomas Fröhlich
Schreiber, Leser, Bibliothekar. Das muss genügen.