93 / Wirklich/Unwirklich / Editorial

Friedrich Nietzsche blickte voll Ironie auf „ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden“. Doch schon einen kosmischen Augenblick später vergeht alles Leben auf ihrem
Heimatplaneten. Die klugen Tiere sind für ihn wie eine Mücke, die „mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt“.
Dem Optimismus, dass wir durch Forschen und Nachdenken immer mehr von der Welt verstünden, widerspricht er vehement. Schon die Sprache ist ihm Betrug, bildet sie doch, wenn überhaupt, nur winzige Bruchstücke dessen ab, das außerhalb unserer Wahrnehmung existiert. Wir türmen Metaphern auf Metaphern und fassen die Ergebnisse in Kategorien zusammen, die auf unserer, letztendlich willkürlichen Art des Denkens beruhen: „Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“
Das sind reizvolle, wohl auch erschreckende Überlegungen in Zeiten der Muße. Wenn man Zahnschmerzen hat, vertraut man doch wieder der Sprache, mit der man das Leiden beschreibt, sowie den Erkenntnissen und dem Können der Person, die einen behandelt. Damit ist man bei Marx und Engels, die bekanntlich das Bewusstsein als vom Sein abhängig charakterisierten. Was nicht bedeutet, dass alle, die sich auf sie berufen, das auch beherzigen. In der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten war der „reale Sozialismus“ weder sozialistisch noch wirklich. Die Kunst zeigte ein gleichermaßen glückliches wie potemkinsches Proletariat.
Aber da gab es ja noch Pierre Bourdieu, der zeigte, dass auch soziales, kulturelles und symbolisches Kapital angehäuft, zur Machtausübung verwendet und weitergegeben werden kann. Was ihn schließlich schließlich dazu brachte mit der Reihe „Raisons dʼagir“ kurze Anleitungen zu publizieren, mit denen sich die Welt, erraten, verändern lässt. Allerdings ist in vielen Fällen nicht unbedingt klar, was die Welt ist. Der Anthropologe Edward E. Evans-Pritchard hat 1937 gezeigt, wie eine Gesellschaft auf der Basis des Glaubens an Magie funktioniert. Der Philosoph und studierte Physiker Paul Feyerabend geht einen Schritt weiter und anerkennt vielfältige Traditionen, auf denen Wissen und Erkenntnis beruhen, die Quantentheorie ebenso wie die Philosophie des Dao; ihre Eignung zur Lösung eines Problems ist für ihn abhängig vom Kontext.
All diese Positionen und mehr werden Sie in den folgenden Texten finden: skeptisch, lyrisch, humorvoll, satitirisch, analytisch, absurd etc. Lassen Sie sich überraschen, wie wirklich die Unwirklichkeit sein kann. Und umgekehrt.
Gerald Jatzek

P.S. Wir haben mehr als 300 Einsendungen erhalten, die meisten davon mit mehreren Texten. Wir hätten gerne weitere 20 Seiten mit Geschichten und Gedichten publiziert, aber das Heft hat bereits den maximalen Umfang, den die Produktionsweise zulässt. Wir hoffen daher, dass alle, die diesmal nicht dabei sind, sich trotzdem an den nächsten Heften beteiligen.

 

Gerald Jatzek
Lebt als Autor und Musiker in Krems und Wien, veröffentlichte Bücher für Erwachsene und Kinder, erhielt 2001 den Österreichischen Preis für Kinderlyrik, nahm als Autor und Musiker an Festivals in Europa, Asien und Amerika teil und publiziert englischsprachige Lyrik in internationalen Zeitschriften.

 

Gabriele Müller
Aufgewachsen in Wien und Grafenwörth, lebt in Krems. Reisen und Arbeiten in Lateinamerika, Übersetzerin und Dolmetscherin. Korrespondentin deutschsprachiger Medien in Zentralamerika bis 1993. Studium an der Europäischen Journalismus Akademie in Krems. Arbeitsaufenthalt in Zimbabwe, Äthiopien und Algerien.